Deutscher Gewerkschaftsbund

26.03.2021
Aktionsplan zur Europäischen Säule Sozialer Rechte

Zwischen Ambition und enttäuschten Erwartungen

von Lukas Hochscheidt (DGB)

Am 4. März hat die Europäische Kommission ihren Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte vorgestellt. Während die neuen Ziele zur Stärkung der Beschäftigung und Weiterbildung ambitioniert sind, bleiben die konkret geplanten Maßnahmen deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Europa-Flagge auf Holz

DGB/Alessandro Bianco/123rf.com

Im November 2017 kamen die Europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten der Union im schwedischen Göteborg zusammen, um die Europäische Säule Sozialer Rechte zu proklamieren. Jetzt, dreieinhalb Jahre später, hat die Europäische Kommission einen Aktionsplan vorgelegt, der die Umsetzung der 20 Prinzipien der Säule auf den Weg bringen soll. Er wurde zwar bereits vor Ausbruch des Corona-Virus angegangen, der Zeitpunkt könnte nun aber nicht passender sein: Die seit einem Jahr andauernde Pandemie hat Millionen von Europäer*innen um ihre Lebensgrundlage gebracht. Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz verloren oder aufgehört, nach einem neuen Job zu suchen, Frauen müssen immer mehr unbezahlte Pflegearbeit schultern und junge Menschen drohen eine „Generation Lockdown“ zu werden.

Der Aktionsplan bildet das Herzstück der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Agenda der aktuellen Europäischen Kommission. Bereits bei ihrem Amtseintritt hatte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen – von 2009 bis 2013 deutsche Arbeits- und Sozialministerin – ehrgeiziges Engagement für die soziale Aufwärtskonvergenz bekundet. Sie strebe eine „Wirtschaft im Dienste der Menschen an“, so ihre Worte 2019.

Drei Ziele

Die Erwartungen an den nun veröffentlichten Aktionsplan waren dementsprechend hoch. Eckpfeiler des Plans sind drei Ziele, die die EU bis 2030 erreichen soll – im selben Zeitraum also, in dem auch die Vereinten Nationen ihre Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) umsetzen wollen. Erstens will die Kommission die Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, um 15 Millionen verringern – mindestens 5 Millionen davon sollen Kinder sein. Zweitens soll die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen europaweit auf 78 Prozent steigen (von 72,45 Prozent im dritten Quartal 2020) – wobei der Anteil von Jugendlichen, die weder in Beschäftigung noch in Aus- oder Weiterbildung sind, von 12,6 Prozent in 2019 auf 9 Prozent sinken soll. Und schließlich sollen bis zum Ende des Jahrzehnts 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung an jährlichen Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen (2016 lag dieser Anteil bei nur 37 Prozent), sodass 80 Prozent der Erwachsenen über grundlegende Digitalkompetenzen verfügen.

Während die Ziele in den Bereichen Beschäftigung und Weiterbildung klar und ambitioniert sind, wird die Armutsreduzierung nicht entschlossen genug angegangen. Zwischen 2010 und 2020 wollte EU die Zahl der von Armut bedrohten Menschen um 20 Millionen senken – und blieb weit hinter diesem Zielwert zurück. Die Schnelligkeit, mit der soziale Ausgrenzung im kommenden Jahrzehnt bekämpft werden soll, wurde dementsprechend nach unten korrigiert.   Bedenkt man jedoch, dass in 2019 – noch vor der Covid-19-Pandemie – 91 Millionen Europäer*innen von Armut bedroht waren, sollte die Union ihre Ziele nicht absenken, sondern vielmehr anheben.

Um die Erreichung dieser Ziele zu überwachen, plant die Kommission eine Reform des Social Scoreboards. Es handelt sich dabei um eine Liste von Indikatoren, anhand derer die Europäische Kommission bereits seit 2017 die Erreichung der Ziele der Europäischen Säule Sozialer Rechte in den Mitgliedstaaten misst. Die im Scoreboard gesammelten Daten fließen auch in das Europäische Semester ein, das 2011 zur Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitiken geschaffen wurde und im Rahmen dessen die Europäische Kommission jährliche Reformempfehlungen für die Mitgliedstaaten erstellt.

Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist eine Überarbeitung des Scoreboards in der Tat dringend notwendig: Weder die Tarifabdeckung noch die Gewerkschaftsdichte sind aktuell Teil der untersuchten Indikatoren – dabei handelt es sich um äußerst relevante Kennzahlen, da mitbestimmte Unternehmen und Beschäftigte mit Tarifvertrag erwiesenermaßen besser durch Krisen kommen.  Aus dem Aktionsplan geht noch nicht hervor, wie genau das Scoreboard reformiert und wer daran beteiligt werden soll. Ohne Einbindung der Sozialpartner wird eine positive Reform des Europäischen Semesterprozesses kaum gelingen.

Viel Luft nach oben

Klare Zielvorgaben und deren Überwachung durch das Scoreboard bieten einen Rahmen für die Umsetzung der Sozialen Säule – doch ein Aktionsplan sollte in erster Linie durch seine konkreten Aktionen überzeugen. In dieser Hinsicht lässt der Aufschlag der Kommission deutlich zu wünschen übrig.

Unter den vielversprechendsten Vorschlägen finden sich eine Empfehlung zu „Effektiver aktiver Beschäftigungsunterstützung“ (die ebenfalls am 4. März veröffentlicht wurde) und eine Reform des EU-Wettbewerbsrechts, die Tarifverträge von bestimmten Gruppen von Selbstständigen (vor allem formal selbstständige Plattformarbeiter*innen) schützen soll. Darüber hinaus schlägt die Kommission eine Reform der europäischen Vergaberichtlinien vor, um innovative und sozial nachhaltige öffentliche Beschaffungswesen zu fördern, und stellt einen „Europäischen Sozialversicherungs-Pass“ in Aussicht. Letzterer könnte einen digitalen Informationsaustausch zwischen mobilen Arbeitnehmer*innen und nationalen Behörden ermöglichen, der die Portabilität von Sozialversicherungsansprüchen stärken würde.

Hinter vielen wichtigen „Vorschlägen“ des Aktionsplans verstecken sich jedoch in Wahrheit bereits laufende Maßnahmen. Die Rahmenrichtlinie für Mindestlöhne – die die Kommission als Leuchtturm-Projekt des Aktionsplans präsentiert – wurde bereits im Herbst 2020 vorgelegt und auch die Legislativvorschläge zu den Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft und zum Verbot gefährlicher Chemikalien werden bereits mit den Sozialpartnern beraten. Andere Vorschläge, wie die Evaluierung der 2019 gegründeten Europäischen Arbeitsbehörde und die Novellierung der Neuen Industriestrategie von 2020, sind lediglich Follow-up-Maßnahmen.

 Verpasste Chance

Ein großes Versäumnis des Aktionsplans ist die Tatsache, dass die bereits angekündigte Initiative zu einer Arbeitslosenrückversicherung für die Eurozone – eine wichtige Stellschraube, um asymmetrische Schocks in den Mitgliedstaaten der Währungsunion abzuwenden – in ihm keine Erwähnung findet. Während die Europäische Kommission ursprünglich noch in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Vorschlag zu einer Europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung vorlegen wollte, hat dieses Thema mittlerweile keine Priorität mehr. Auch wenn Beschäftigungskommissar Nicolas Schmit unterstreicht, dass eine solche Arbeitslosen-Rückversicherung weiterhin auf der Agenda der Kommission stehe, spricht ihre Abwesenheit im Aktionsplan Bände.

Ebenso enttäuschend ist es, dass die Kommission sich im Aktionsplan nicht zur Zukunft des SURE-Mechanismus äußert, den sie im Frühjahr 2020 initiiert hatte, um beschäftigungssichernde Maßnahmen in den Mitgliedstaaten durch gemeinsame europäische Anleihen zu unterstützen. So wird zwar eine Evaluierung des Instruments angekündigt, doch eine Positionierung zur Weiterführung oder Entfristung des Mechanismus sucht man im Aktionsplan vergeblich. 90 Prozent der von SURE zur Verfügung gestellten Mittel sind bereits an die Mitgliedstaaten verteilt worden (siehe Grafik) – dabei ist die Krise alles andere als überstanden. Europäische Unternehmen und Beschäftigte brauchen daher dringend Klarheit, ob sie auch in Zukunft auf die EU zählen können, wenn es darum geht, Kurzarbeit zu ermöglichen und damit Jobs zu retten.


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