Deutscher Gewerkschaftsbund

10.06.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Im Gespräch mit Anette Kramme (SPD)

Annette Kramme und Reinhard Dombre

Anette Kramme (SPD) im Interview mit Reinhard Dombre (DGB) DGB/mindestlohn.de

Im Mindestlohn-Businterview fordert die SPD-Bundestagsabgeordnete Anette Kramme: „Wir müssen diese wirtschaftliche Entwicklung politisch so gestalten, dass Grundregeln der Fairness weiter Gültigkeit haben. Dazu gehört in erster Linie ein fairer Lohn“. Die Fachanwältin für Arbeitsrecht ist seit 1998 Mitglied im Deutschen Bundestag und engagiert sich im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Eine gesetzliche Lohnuntergrenze, unter die kein Arbeitgeber gehen dürfe, beschreibt Kramme als notwendige „Schadensbegrenzung“. Natürlich müssten darüber hinaus „höhere Mindestlohn-Tarifverträge abgeschlossen werden können“.

Wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 EUR auf dem Bus, in dem wir fahren?

Anette Kramme: Sehr gut. Die Buslinie 100 der BVG befördert täglich tausende Menschen und fährt dabei an hunderttausenden Berlinern und Touristen vorbei. All diese Menschen werden so im Vorbeigehen auf ein Problem aufmerksam gemacht: Es gibt in Deutschland bislang keine gesetzliche Lohnuntergrenze. Wir Sozialdemokraten wollen das ändern.

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 22 % aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Anette Kramme: Da gibt es leider viele Gründe. Zum einen ändert sich die wirtschaftliche Struktur Deutschlands. Die Zahl der – häufig besser bezahlten – Arbeitsplätze in der Industrie sinkt nicht nur aufgrund der Globalisierung ständig, die Zahl der Jobs im – öfter schlecht bezahlten – Dienstleistungsbereich nimmt zu. Damit einher geht ein Rückgang der Normalarbeitsverhältnisse zugunsten von Teilzeit- und MiniJobs etc. Zum anderen ist es ein politisches Problem. Seit der Kohl-Regierung ist lange Zeit die Arbeitslosigkeit angestiegen. Entsprechend sind immer mehr Menschen bereit oder besser gesagt gezwungen gewesen, für geringere Löhne zu arbeiten. Drittens nimmt leider die Durchschlagkraft der Gewerkschaften ab. Wir beobachten seit Mitte der 1990er Jahre eine abnehmende Tarifbindung, eine abnehmende Zahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, und eine Zunahme tariflich vereinbarter Niedriglöhne. Die oft zitierte sächsische Friseuse mit 3,61 €/h ist nur der Gipfel. Immer mehr Menschen arbeiten in Sektoren, in denen es gar keine oder sehr ungünstige Tarifverträge gibt.

Welche Auffassung vertreten Sie dazu, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Anette Kramme: Wir müssen diese wirtschaftliche Entwicklung politisch so gestalten, dass Grundregeln der Fairness weiter Gültigkeit haben. Dazu gehört in erster Linie ein fairer Lohn. Der Gesetzgeber muss dort helfen, wo Gewerkschaften dies im Moment nicht können. Deshalb brauchen wir eine gesetzliche Lohnuntergrenze, unter die kein Arbeitgeber – egal welcher Branche – gehen darf. Dieser Mindestlohn ist nötig zur ‚Schadensbegrenzung’. Natürlich sollen jederzeit höhere Mindestlohn-Tarifverträge abgeschlossen werden können.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Anette Kramme: Die Politik kann und muss einen Rahmen setzen. Ein vom Parlament beschlossener Mindestlohn ist der erste und – wenn das bürgerliche Lager aus CDU und FDP nicht blockieren würde – einfachste Schritt. Ein zweiter Schritt wäre, bestimmte Rechtsgebiete umzugestalten. Im Vergaberecht z.B. muss bisher – vereinfacht gesagt – immer das günstigste Angebot bei einer Ausschreibung gewählt werden. Ich finde, der Kriterienkatalog muss dringend erweitert werden. Wenn die öffentliche Hand Auftrage vergibt, muss sie auch die Einhaltung von dass soziale Faktoren – also z.B. eine Bezahlung nach Tariflohn – berücksichtigen dürfen.
Auch die Einführung einer Sozialplanpflicht bei Betriebsübergängen wäre ein wichtiger Schritt. Bisher wird dort oft bei Löhnen Missbrauch betrieben, den wir durch die Pflicht zur Vereinbarung eines Sozialplans zumindest deutlich verringern können.

Ein dritter Schritt sollte von Politik und Gewerkschaften gemeinsam erfolgen: Gewerkschaften waren einst die Vorkämpfer sozialer Gerechtigkeit im Arbeitermilieu. Heute werden sie häufig als Ewiggestrig und Bremser diffamiert. „Deutschlands Wohlstand wird zugrunde gehen, wenn wir die Gewerkschaften nicht entmachten.", kam zum Beispiel 2003 aus dem Mund von FDP-Chef Westerwelle. Wir müssen zusammen an einem Bewusstseinswandel in der Bevölkerung arbeiten. Arbeitnehmerrechte sind nicht teuer und veraltet. Sie sind essentiell für die Qualität der Arbeit und ein gesellschaftlicher Fortschritt!

Welche Position vertritt die SPD im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bzgl. Existenz sichernder Mindestlöhne?

Anette Kramme: Die SPD spricht sich klar für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aus. Die Höhe sollte vorerst – mit Blick auf vergleichbare EU-Nachbarländer – rund 7,50 Euro betragen und später regelmäßig und angemessen erhöht werden. Dieser allgemeine und gesetzliche Mindestlohn ist jedoch nur die absolute Untergrenze.

Zusätzlich brauchen wir die Möglichkeit zu höheren Mindestlöhnen für einige Branchen. Die Mindestlöhne im Bau oder bei den Briefdienstleistern liegen z.B. über den avisierten 7,50 Euro/h. Der gesetzliche Mindestlohn allein würde einen Lohndumpingwettbewerb nicht verhindern.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Anette Kramme: Sie verstoßen zumindest gegen zwei UN-Konventionen von 1928 sowie 1970. Immerhin 116 Staaten haben eine der beiden Konventionen ratifiziert, die Mindestlöhne als universelle Norm bezeichnen. Die Idee eines fairen Lohnes als fundamentales Recht wurde später auch Element internationaler Übereinkünfte, zum Beispiel in der Universalen Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder in der Europäischen Sozialcharta von 1961. Und Theodore Roosevelt erklärte schon 1938 anlässlich der Einführung eines landesweiten Mindestlohns in den USA: „Mit existenzsichernden Löhnen meine ich mehr als ein pures Existenzminimum – ich meine Löhne für ein würdiges Leben.“

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Anette Kramme: Nein. Die Soziale Marktwirtschaft muss eine soziale Komponente enthalten und die Würde von Arbeitnehmern sichern. Dumpinglöhne in Höhe von 3,61 Euro/h gehören mit Sicherheit nicht dazu.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Anette Kramme: Nein. Warum? Im Gegenteil! Flächendeckende Lohnuntergrenzen sind für mich die soziale Seite der Marktwirtschaft.

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Anette Kramme: Diese Frage sollten Sie den Kollegen von FDP oder Union stellen. Die SPD und ich persönlich wollen diesen 20 Ländern folgen. Die OECD kommt 1998 zu dem Ergebnis, dass mit Mindestlöhnen keine eindeutigen Beschäftigungseffekte verbunden sind. Card/Krüger, zwei amerikanische Forscher, haben ähnliche Ergebnisse Mitte der 1990er für die USA ermittelt. In Großbritannien wurde 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Auch der blieb beschäftigungsneutral; in manchen Sektoren wuchs die Beschäftigung sogar. Das Argument, Mindestlöhne gefährdeten Arbeitsplätze, ist von der Wirklichkeit widerlegt!

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmer-freizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?

Anette Kramme: Ich finde, er kann es nicht. Prinzipiell nicht, ganz unabhängig von der Freizügigkeit.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Anette Kramme: Ja. Wir haben versucht, für die Branche der Zeitarbeit eine Lohnuntergrenze in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einzubauen. Die Union hat Absprachen gebrochen und blockiert. Wenige Wochen später mussten wir die skandalöse Werbung einer Zeitarbeitsfirma sehen, in der getitelt wurde: „Große Rabattaktion - Alle müssen raus!“. Darin ging es nicht um Matratzen oder Schaukelstühle. Es ging um Menschen, um Zeitarbeiter, die für 15 Prozent weniger angeboten wurden. Wieviele Belege brauchen die Konservativen noch, um einzusehen, dass ein Mindestlohn für die Zeitarbeit unumgänglich ist?

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, z.B. Niedriglohnbeschäftigte?

Anette Kramme: Natürlich werden auch Niedriglohnbeschäftigte berücksichtigt. Diese fallen z.B. genauso unter die neuen Regeln zur Kurzarbeit, die ich für eine der wichtigsten Komponenten des Pakets halte. Unter dem Motto „Qualifizieren statt entlassen“ können Phasen der Kurzarbeit zur Weiterbildung genutzt werden. Im Idealfall gehen Arbeitnehmer daraus mit neuen Kenntnissen und mehr Wissen hervor und kommen für höherqualifizierte und –bezahlte Arbeiten in Frage. Der Schutz vor Arbeitslosigkeit wird so in jedem Fall besser. Niedriglohnbeschäftigte profitieren auch vom Kommunalen Investitionsprogramm; sei es als Angestellte bei Auftragnehmern, sei es indirekt als Nutznießer sanierter Straßen oder Volkshochschulen.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Anette Kramme: Ja, sind sie. Deshalb kämpfen wir dafür. Wir wollen keine Politik, die Banken beschirmt und die Bankkunden im Regen stehen lässt.

Wir danken Anette Kramme für das Interview.


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