Deutscher Gewerkschaftsbund

18.01.2016
Demografie

Das Ende des Alarmismus

einblick 01/2016

Die Zuwanderung verändert die düsteren Voraussagen der Demografie. Die offizielle Forschung ignoriert das bisher, sie rechnet den Faktor Migration systematisch klein, kritisiert der Publizist Thomas Gesterkamp.

Malerei von Kindern auf Wand: Kinder mit Flaggen unterschiedlicher Länder Hand in Hand

Colourbox.de

Die starke Migration von Flüchtlingen in den vergangenen Monaten lässt frühere Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung fragwürdig erscheinen. Werden in ein paar Jahrzehnten tatsächlich nur noch 60 statt über 80 Millionen Menschen in Deutschland leben? Werden künftig ganze Wohnviertel leer stehen, Dörfer sich auflösen, wie manche Voraussagen einst behauptet haben? Mittlerweile zeichnet sich, bei aller Spekulationsgefahr, ein ganz anderer Trend ab: Diese Annahmen waren falsch – und viel zu pessimistisch. Ein „neues Zeitalter der Völkerwanderung hat begonnen“, schreibt die Debattenzeitschrift Berliner Republik, „und niemand soll glauben, dass es sich bei dem Exodus um ein temporäres Phänomen handelt“.

Bisherige Szenarien haben die Zuwanderung aus anderen Ländern, im Vergleich zu Geburts- und Sterberaten stets der schwierigste Teil demografischer Projektionen, deutlich zu niedrig angesetzt. Die turbulente Entwicklung der letzten Zeit hat dies eindrucksvoll belegt. Ein Ende der Fluchtbewegungen ist auch 2016 nicht zu erwarten. Und die Mehrheit der ZuwandererInnen, das zeichnet sich bei aller Unsicherheit jedweder Prophezeiung ab, könnte dauerhaft bleiben.

Bevölkerungsprognosen sind nie eindeutig, wissenschaftlich objektiv und wertfrei. Im Gegenteil, dahinter stecken häufig handfeste ökonomische Interessen. Die regelmäßige Klage über eine „Überalterung“ der Gesellschaft zum Beispiel lag stets im Interesse der Versicherungswirtschaft, die mit den dadurch ausgelösten Ängsten zur „privaten Vorsorge“ aufrief, Lebensversicherungen oder „Riester-Renten“ verkaufen wollte. Bei den von den Medien präsentierten „Experten“ zum Thema ist stets zu hinterfragen, wer diese finanziert, ob sie wirklich unabhängig sind oder als Lobbyisten agieren.

Im weltweiten Maßstab betrachtet war es schon immer eine irritierende Vorstellung, dass sich ein derart reicher Staat mit einer – trotz mancher Mängel im Detail – hervorragenden Infrastruktur „entvölkern“ könnte. Die meisten deutschen Demografen haben den Faktor Zuwanderung stets kleingerechnet und so einen falschen Alarmismus über sinkende Bevölkerungszahlen befördert. Die ‚Flüchtlingskrise‘, so die Soziologen Stephan Lessenich und Reinhard Messerschmidt, sei „in Wahrheit eine Krise der herrschenden Migrationspolitik“ und offenbare „Abwehreffekte und Bewahrungseffekte aller Art“. Hier äußere sich der „mal hilflose, mal machtvolle Wunsch, das alles so bleiben möge, wie es ist – beziehungsweise wieder so werde wie früher, als die Welt angeblich noch ‚in Ordnung‘ war”. Die Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, „gehörte noch zum hiesigen Regierungserklärungsrepertoire, als sich die Leute an den Stammtischen des Ruhrgebiets, in den Fußgängerzonen Frankfurts oder Offenbachs und in den Betriebshallen in Mannheim und München über die Weltfremdheit ihres politischen Führungspersonals bestenfalls noch amüsieren konnten“.

„Bevölkerungsprognosen sind nie eindeutig,
wissenschaftlich objektiv und wertfrei. Im Gegenteil, dahinter
stecken häufig handfeste ökonomische Interessen.“

Die fehlende Einsicht, es dauerhaft mit Zuwanderung zu tun zu haben, prägt nicht nur die Politik, sondern auch die Forschung. Das Statistische Bundesamt zum Beispiel signalisiert trotz unruhiger Zeiten Berechenbarkeit und Sachlichkeit. Unbeeindruckt von den Flüchtlingsrekorden behauptet die Behörde, die langfristige Entwicklung der Einwohnerzahlen sei „gut und verlässlich“ abschätzbar. Selbst die jüngste Bevölkerungsprojektion geht beim Faktor Migration davon aus, es bleibe alles beim Alten. Zwar können die amtlichen Demografen die letzten offiziell bestätigten Daten, die (vergleichsweise moderate) Nettoeinwanderung von rund 550000 Menschen im Jahr 2014, nicht komplett ignorieren. Aber sie erklärt das Phänomen kurzerhand zum statistischen Ausreißer.

Der deutsche Wanderungssaldo, so konstatierten die staatlichen Forscher noch im April 2015, werde sich bis zum Jahr 2020 „schrittweise“ auf einen Wert zwischen 100000 und 200000 Menschen verringern. Eine Rechnung, die angesichts der aktuellen Entwicklung nur noch absurd anmutet. „Willkommen im 21. Jahrhundert!“ formulieren ironisch die Demografie-Kritiker Lessenich und Messerschmidt. Denn die Wohlstandsinsel Deutschland ist längst Teil einer globalen Normalität, die in vielen Regionen der Welt von Armut, Vertreibung und Krieg geprägt ist. Höchste Zeit, dass dies auch die amtlichen Prognostiker zur Kenntnis nehmen und mit realistischen Zahlen kalkulieren.


Thomas Gesterkamp, 58, ist Journalist und Buchautor in Köln. Er schreibt über Themen aus der Arbeitswelt, über Gewerkschaften, Sozial- und Geschlechterpolitik.


Erschienen in: einblick 1/2016 vom 18.01.2016


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