Deutscher Gewerkschaftsbund

14.07.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Im Gespräch mit Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen)

Renate Künast und Reinhard Dombre

Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) und Reinhard Dombre (DGB) DGB

Die Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, betont im Interview die Notwendigkeit von Mindestlöhnen: "Mann und vor allem Frau muss von ihrer Hände Arbeit leben können. Wir wollen, dass Armut trotz Arbeit ein Ende hat!" Die Einführung eines Mindestlohns liege laut Renate Künast in der gesellschaftlichen Verantwortung. "Eine Gesellschaft, die den Anspruch hat, sozial und gerecht zu sein," solle "Beschäftigungsverhältnisse unterhalb eines bestimmten Lohnniveaus nicht tolerieren", so die Grünen-Politikerin.

Renate Künast ist seit dem 18. Oktober 2005 Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Von Januar 2001 bis Oktober 2005 war sie als Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Mitglied in der deutschen Regierung.

Wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 Euro pro Stunde auf dem Bus, in dem wir fahren?

Renate Künast: Die Idee finde ich gut, vor allem weil das Thema Mindestlohn eigentlich zügig vorankommen muss. Der Bus ist in jedem Fall schneller unterwegs, als die große Koalition das war. Die hat bei dem Thema ja vor allem gebummelt und gebremst.

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 23 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Renate Künast: Ich nenne mal drei zentrale Gründe aus unserer Sicht: Erstens werden die Löcher in der Tariflandschaft immer größer und tariffreie Bereiche sind regelmäßig Niedriglohnbereiche; zweitens hat das Tarifdumping in der Zeitarbeit durch Haustarifverträge und die Tarifkonkurrenz des christlichen Gewerkschaftsbundes zu Niedrigstlöhnen für viele Beschäftigte geführt und drittens hat die Politik ihre Hausaufgaben nicht gemacht und nicht ausreichend auf diese Entwicklungen reagiert, z.B. durch Einführung eines generellen Mindestlohns oder die Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in der Leiharbeit ab dem ersten Tag.

Welche Auffassung vertreten Sie, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Renate Künast: Wir müssen einerseits eine Lohnuntergrenze, also einen Mindestlohn einführen, um Lohndumping zu verhindern, und zwar für alle Beschäftigten in allen Branchen. Zum anderen müssen wir Menschen mit geringen Einkommen von Sozialversicherungsbeiträgen entlasten und so ihre Nettoeinkommen stärken.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Renate Künast: Wir schlagen die Einrichtung einer Mindestlohn-Kommission vor, die sich aus Vertretern der Sozialpartner und der Wissenschaft zusammensetzt. Sie ist für die Festlegung und Anpassung des Mindestlohns zuständig, der aber mindestens 7,50 Euro pro Stunde betragen muss. Diese Grenze ist für alle verbindlich und darf in keinem Beschäftigungsverhältnis unterschritten werden. Branchen- und regionalspezifische Mindestlöhne, die über der allgemeinen Lohnuntergrenze liegen, sind ergänzend möglich.

Welche Position vertritt Bündnis 90 / Die Grünen im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bzgl. Existenz sichernder Mindestlöhne?

Renate Künast: Wir meinen es Ernst mit dem Schutz vor Lohnarmut. Mann und vor allem Frau muss von ihrer Hände Arbeit leben können. Wir wollen, dass Armut trotz Arbeit ein Ende hat! Seit 2004 setzen wir uns für die Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland ein. Die Bundestagswahl entscheidet darüber, ob es in Zukunft mit Schwarz-Gelb Lohndumping auf Kosten der Beschäftigten und der Staatskasse gibt oder ob es eine verbindliche Untergrenze für alle Löhne gibt, die von niemandem unterschritten werden darf.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Renate Künast: Ganz unabhängig von verfassungsrechtlichen Vorschriften im Grundgesetz sollte eine Gesellschaft, die den Anspruch hat, sozial und gerecht zu sein, Beschäftigungsverhältnisse unterhalb eines bestimmten Lohnniveaus nicht tolerieren. Unseres Erachtens ist eine Lohnuntergrenze auch und gerade wegen des Wettbewerbsdrucks auf dem Arbeitsmarkt dringend notwendig. Unser Vorschlag eines Mindestlohns in Höhe von mindestens 7,50 Euro pro Stunde legt eine Grenze fest, die von den Marktkräften nicht unterschritten werden darf.

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Renate Künast: Nein, natürlich nicht. Ich sage es noch mal: Eine Gesellschaft, die den Anspruch hat, sozial und gerecht zu sein, sollte Beschäftigungsverhältnisse unterhalb eines bestimmten Lohnniveaus nicht tolerieren. Da hilft es auch nicht, wie die Union es tut, einen Mindestlohn abzulehnen und stattdessen auf sanierungsbedürftige Säulen der alten bundesrepublikanischen Marktwirtschaft zu verweisen, nämlich die Tarifautonomie und die Rechtssprechung zur Sittenwidrigkeit. Die Friseurin in Sachsen würde nach den Vorstellungen der Union dann nämlich weiterhin mit 3 Euro pro Stunde abgespeist werden, denn das ist der relevante Tariflohn. Würde man auf die Sittenwidrigkeit abstellen, wäre für die Friseurin in Sachsen sogar ein Lohn von 2 Euro pro Stunde noch in Ordnung. Nach allgemeiner Rechtsprechung fängt die Sittenwidrigkeit nämlich ab einer Abweichung von Tariflöhnen von einem Drittel und mehr nach unten an. Wir finden, das ist alles andere als in Ordnung.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Renate Künast: Sie spielen darauf an, dass durch eine allgemeine Lohnuntergrenze möglicherweise am Ende sogar Arbeitsplätze wegfallen und Menschen deswegen arbeitslos werden. Nein, ein Mindestlohn verhindert zu allererst Lohndumping und Ausbeutung von ArbeitnehmerInnen. Die meisten Branchen mit niedrigen Löhnen sind lokal gebundene Dienstleistungen, die laufen nicht so schnell weg. Soweit die Verbraucher konsequent handeln und bereit sind, für ihre Produkte und Dienstleistungen, also z.B. den Haarschnitt, auch einen fairen Preis zu zahlen, fallen auch keine Arbeitsplätze weg.

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Renate Künast: Nein, sicher nicht, auch wenn es innerhalb dieser Gruppe natürlich extreme Unterschiede in der Höhe des Mindestlohns gibt. Wir halten das Verfahren zur Festsetzung des Mindestlohns in Großbritannien für besonders beispielhaft. In Großbritannien existiert seit 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn. Die Höhe wird von der Mindestlohnkommission zwischen Wissenschaftlern, Arbeitgeberspitzenverband und Gewerkschaftsbund jährlich neu bestimmt. Die Vorschläge der Kommission werden einstimmig verabschiedet und genießen eine breite gesellschaftliche Akzeptanz als Mittel zum Schutz von Niedrigverdienern. Verstöße von Unternehmen gegen den Mindestlohn sind kaum bekannt. Das Beispiel zeigt, dass die allgemeine Akzeptanz des Mindestlohns eine zentrale Voraussetzung für seine Einhaltung ist.

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?

Renate Künast: Nein, hätte die große Koalition gehandelt statt die Einführung von Mindestlöhnen zu verschleppen, hätte die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus unserer Sicht schon im Mai 2009 vollständig hergestellt werden können und müssen. Die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat die Beschränkungen für den Arbeitsmarkt nie eingeführt oder im Gegensatz zu Deutschland ihre frühere Abschottungspolitik korrigiert. Bündnis 90/Die Grünen haben die Bundesregierung wiederholt aufgefordert, ein umfassendes System von Mindestlöhnen zum Schutz aller Arbeitnehmer in Deutschland einzuführen, um dann auch die volle Freizügigkeit für Beschäftigte aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zum 1. Mai 2009 herzustellen zu können.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Renate Künast: Ja, die Zeitarbeit ist besonders von Lohndumping betroffen. Auch hier ist die Bilanz der großen Koalition erbärmlich. Von der ohnehin schon bescheidenen Anzahl von zehn bis zwölf Branchen, denen die Koalition die Aufnahme ins Arbeitnehmerentsendegesetz in Aussicht gestellt hat, haben es bis zum Ende der Wahlperiode nur acht geschafft. Insgesamt gibt es jetzt in neun Branchen einen branchenbezogenen Mindestlohn. Die besonders von Lohndumping betroffene Zeitarbeit gehört nicht dazu.

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, z.B. Niedriglohnbeschäftigte?

Renate Künast: Die Bundesregierung hat es mit ihren Konjunkturpaketen völlig versäumt, die unteren Einkommen und damit auch die Nachfrage zu stärken. Wir fordern mehr Investitionen in Klima, Bildung und Gerechtigkeit. Letzteres bedeutet konkret die Einführung von Mindestlöhnen, die Anhebung des Arbeitslosengeld II auf 420€ und die Entlastung von Niedrigverdienern bei den Sozialversicherungsbeiträgen durch das grüne Progressiv-Modell.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Renate Künast: Ja, natürlich. Wir glauben aber auch, dass Lohnuntergrenzen alleine nicht ausreichen. Wenn wir die Krise mit guten Ausgangsbedingungen für kommende arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Herausforderungen bewältigen wollen, muss mehr getan werden. Das Problem des wachsenden Fachkräftemangels lässt sich nur lösen, wenn jetzt die Voraussetzungen geschaffen und Qualifikation und Beschäftigung für die zukünftigen Jobs auf den Weg gebracht werden. Deshalb finden wir es z.B. bedauerlich, dass die Bundesregierung Kurzarbeit und Qualifizierung wieder entkoppelt hat.
 

Wir danken Renate Künast für das Gespräch.


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