Deutscher Gewerkschaftsbund

20.07.2010
Mindestlohn-Interview

Mindestlohn ohne Einfluss auf Beschäftigung Geringqualifizierter

Daniel Oesch

Daniel Oesch University of Geneva

Daniel Oesch (1975) ist Assistenzprofessor an der Universität Lausanne in der Schweiz und beschäftigt sich mit der Arbeitsmarktpolitik und dem Wandel der Beschäftigungsstruktur. Zwischen 2002 bis 2008 arbeitete als nationaler Sekretär beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB. Oesch untersuchte verschiedene Einflussfaktoren auf die Beschäftigung Geringqualifizierter in 21 Industriestaaten zwischen 1996 und 2006.* Im Interview mit der Redaktion Mindestlohn erklärt er, warum die Einführung von Mindestlöhnen notwendig ist und warum sie Geringqualifizierten vielmehr nutzen als schaden.

Geringqualifizierte Beschäftigte haben es auf dem Arbeitsmarkt schwer. Fast jeder fünfte von ihnen ist in Deutschland arbeitslos. Von welchen möglichen Einflussfaktoren sind Sie in Ihrer Untersuchung ausgegangen?

Daniel Oesch: Geringqualifizierte sind oft die letzten, die eingestellt werden und die ersten, die entlassen werden. Sie sind einfacher zu ersetzen, weil sie wenig spezifisches Fachwissen haben.

Ich bin von vier Faktoren ausgegangen, die einen Einfluss auf die Beschäftigung Geringqualifizierter haben könnten. Dazu gehören Faktoren der Lohnfestsetzung wie beispielsweise die Einführung staatlicher Mindestlöhne, die Regulierung des Arbeitsverhältnisses, aber auch die Globalisierung im Hinblick auf Exporte, Importe und Arbeitsmigration. Die vierte und vielleicht die wichtigste Gruppe ist aber die Geld- und Fiskalpolitik. Hier geht es darum, was der Staat unternimmt, um die Nachfrage zu stabilisieren.

Zu welchem Schluss sind Sie gekommen? Wovon hängt die Beschäftigungsquote Geringqualifizierter ab?

Daniel Oesch: Im Untersuchungszeitraum 1991 bis 2006 in den 21 OECD-Staaten waren nur zwei Faktoren systematisch korreliert mit der Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten. Einerseits Investitionen in aktive Arbeitsmarktmaßnahmen, wie die Betreuung, Schulung und Wiedereingliederung der Arbeitslosen. Der zweite Faktor ist eine expansive Geldpolitik. Länder, die tiefe Zinsen haben und eine starke Binnennachfrage, die hatten auch weniger geringqualifizierte Arbeitslosigkeit.

Viele Wirtschaftsexperten sagen, man müsse die Löhne senken, um Arbeitslosigkeit vor allem im geringqualifizierten Bereich zu beseitigen. Sie gehen aber von einer starken Binnennachfrage, also auch von guten Löhnen aus, um die Beschäftigung Geringqualifizierter anzukurbeln.

Daniel Oesch: In Deutschland ist es unsinnig, die Löhne kürzen zu wollen, um mehr Beschäftigung zu erlangen. Die deutsche Wirtschaft ist sehr wettbewerbsfähig, exportiert viel mehr als sie importiert. Die Lohnstückkosten (d.h. die Löhne im Verhältnis zur Produktivität) sind viel weniger stark gewachsen als in anderen EU-Ländern. Niedrigere Löhne würden bedeuten, dass die Exporte noch stärker wachsen. Aber wer soll diese kaufen? Die Nachfrage nach Arbeit hängt grundsätzlich von der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ab. Wenn die Löhne stagnieren, dann stagniert auch der Konsum. Bei einer schwachen Binnennachfrage leiden natürlich die Geringqualifizierten am meisten, weil das bedeutet, dass die Restaurants und die Hotels, der Einzelhandel usw. weniger Leute brauchen.

Es wird oft behauptet, ein Mindestlohn wirke sich negativ auf die Beschäftigung von Geringqualifizierten aus? Auf welches Ergebnis kommen Sie in Ihrer Untersuchung?

Daniel Oesch: Für den Zeitraum, den ich untersucht habe, scheinen Mindestlöhne keinerlei Einfluss auf die Beschäftigung von Geringqualifizierten zu haben. Weder positiv noch negativ. Und die Erklärung ist relativ einfach. Die Mindestlöhne in den OECD-Ländern sind zu tief, als dass sie sich auf die Beschäftigung auswirken könnten. In anderen Worten: Auch wenig qualifizierte Beschäftigte haben eine Produktivität, die über dem Niveau der Mindestlöhne liegt.

Was halten Sie im Allgemeinen von der Einführung eines Mindestlohns?

Daniel Oesch: Solange das Tarifsystem den Großteil des Arbeitsmarktes abdeckte, waren staatliche Mindestlöhne wenig wichtig. Aber mit dem Ausbreiten des Dienstleistungssektors, wo ein wichtiger Teil nicht mit Tarifverträgen abgedeckt ist, werden staatliche Mindestlöhne immer bedeutender. Dies umso mehr, weil wir in Europa freien Personenverkehr haben und folglich Regeln brauchen, die für alle gelten. Ob Schweizer, Deutsche oder Polen. Alle, die an einem gleichen Ort arbeiten, müssen auch den gleichen Lohn bekommen.

Befürworten Sie branchenspezifische oder allgemeinverbindliche Mindestlöhne?

Daniel Oesch: Beides schließt sich ja nicht aus. Auch wenn man einen nationalen Mindestlohn hat, wie beispielsweise in den Beneluxländern, wird weiterhin auf Branchenebene verhandelt und dann werden diese Mindestlöhne teils für die ganze Branche angewandt. Das heißt, Mindestlöhne auf Branchenebene und ein staatlicher Mindestlohn für den gesamten Arbeitsmarkt sind durchaus komplementär.


* Oesch, D. (2010), "What explains high unemployment among low-skilled workers? Evidence from 21 OECD countries", European Journal of Industrial Relations 16 (1): 39-55.


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