Spargel und Erdbeeren: lecker – aber zu welchem Preis? Damit Obst und Gemüse auf unserem Teller landen, arbeiten jedes Jahr zahlreiche Wanderarbeiter*innen aus dem Ausland bei der Ernte mit. Viele zahlen einen hohen Preis: Ihre Arbeits- und Unterkunftsbedingungen sind miserabel. Die Pandemie hat dies noch verschärft. Erntehelfer*innen arbeiten hart, ohne Krankenversicherung und stehen am Schluss ganz ohne Rentenansprüche da. Der DGB und die IG BAU fordern ein Ende der Sonderregelungen für die Saisonarbeit bei der Ernte und die soziale Absicherung der Beschäftigten.
DGB/123rf/Ruud Moriyn
Die deutsche Landwirtschaft ist auf Wanderarbeiter*innen aus dem Ausland angewiesen. Jährlich kommen Menschen zur temporären Arbeitsmigration nach Deutschland, um Spargel zu stechen oder Erdbeeren und Gemüse zu ernten. Die miserablen Arbeits- und Unterkunftsbedingungen vieler von ihnen waren häufig Thema der Berichterstattung in den letzten Jahren. In der Corona-Krise haben sich diese Bedingungen verschärft. Nachdem am Anfang der Pandemie 2020 erst ein ursprünglicher Einreisestopp für osteuropäische Erntehelfer*innen verhängt wurde, ist die Landwirtschaft im März als systemrelevant eingestuft worden und auf Druck der Landwirtschaftslobby wurden eine ganze Reihe von Sonderregelungen für Erntehelfer*innen eingeführt. Es wurde unter anderem eine Luftbrücke für Erntehelfer*innen eingerichtet sowie eine Ausweitung der Arbeitszeit ermöglicht. Durch das Sozialschutzpaket I ist auch eine Verlängerung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung von 70 auf 115 Tagen beschlossen worden. Diese Regelung ist am 31. Oktober 2020 ausgelaufen. Die Landwirtschaftsverbände fordern nun vom BMAS auch für 2021 eine erneute Verlängerung der Regelung auf 115 Tage. Dafür müsste eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen werden.
Der DGB und die IG BAU sind gegen eine solche Verlängerung: eine Beschäftigung, die für fünf Monate im Kalenderjahr ausgeübt wird, kann nicht mehr als kurzfristig und als Hinzuverdienst betrachtet werden. Die Beschäftigten, die größtenteils schwere körperliche Arbeiten ausführen und durch ihre Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sowie Gruppentransporte zur Arbeitsstelle ein hohes Infektionsrisiko aufweisen, müssen in den Schutz der Sozialversicherung kommen. Die Sicherung der Ernte ist nicht an die Sozialversicherungsfreiheit der Beschäftigung gebunden, wie von den Landwirtschaftsverbänden vielfach behauptet. Wenn die im Rahmen der EU-Freizügigkeit aktiven mobilen Beschäftigten länger als 70 Tage in Deutschland bleiben und arbeiten möchten, können sie es bereits jetzt tun – dann kommen sie allerdings von Anfang an in den Schutz der Sozialversicherung.
Die Saisonarbeit in der Landwirtschaft wird bisher in den meisten Fällen im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung ausgeübt (sog. „kurzfristige Beschäftigung“). Diese Beschäftigungsform ist für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber sozialversicherungsfrei. Arbeitgeber müssen sie lediglich bei der Minijobzentrale anmelden und Pflichtbeiträge an die Unfallversicherung abführen. Bei der kurzfristigen Beschäftigung gibt es keine monatlichen Einkommensgrenzen, wie im Falle der ebenfalls sozialversicherungsfreien 450-Euro-Jobs. Damit eine Beschäftigung als kurzfristig eingestuft wird, gelten allerdings zwei andere Voraussetzungen:
Die maximalen Zeitgrenzen für die kurzfristige Beschäftigung sind auf Druck der Landwirtschaftslobby mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz (2014) befristet von 50 auf 70 Tage verlängert worden, mit dem Qualifizierungschancengesetz (2019) für 70 Tage entfristet und von März bis Oktober 2020 sogar auf 115 Tage erhöht. Damit eröffnet der Gesetzgeber Tür und Tor, um die Sozialversicherungspflicht für teilweise erhebliche Einkommen und Zeitabschnitte zu umgehen. Nach Beobachtung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften ist diese Regelung stark missbrauchsanfällig.
Die Regelung ist ursprünglich für Schüler*innen und Student*innen eingeführt worden, für welche sie auch sinnvoll ist. Inzwischen wird sie aber in der Landwirtschaft im großen Stil bei migrantischen Saisonbeschäftigten (meist aus Mittel- und Osteuropa) angewandt. Problematisch ist dabei, dass die Berufsmäßigkeit – als Voraussetzung der Sozialversicherungsfreiheit – gar nicht geprüft wird und in er Regel auch nicht gegeben ist. Normalerweise verlangt der Arbeitgeber dazu lediglich eine Selbsterklärung des Beschäftigten und meldet die Beschäftigung als geringfügig bei der Minijobzentrale an. Erst wenn der Zoll im Rahmen einer Prüfung Verdacht schöpft, dass keine kurzfristige Beschäftigung vorliegt, wird dies dem Rentenversicherungsträger gemeldet, der den Sachverhalt prüft. Bis dahin sind die meisten Beschäftigten schon wieder in ihren Heimatländern zurückgekehrt.
Die Regelung geht davon aus, dass die Arbeitnehmer*innen auf anderem Wege (über die Hauptbeschäftigung) kranken-, renten- und arbeitslosenversichert sind. Dies kann jedoch bei mobilen Beschäftigten aus der EU nur schwer überprüft werden und wird in der Praxis auch nicht gemacht. So kommt es vielfach vor, dass Beschäftigte während der kurzfristigen Beschäftigung gar nicht versichert sind und ihnen dadurch – vor allem bei jährlich wiederkehrender Saisonarbeit - bedeutende Lücken im Renten- und Krankenversicherungsverlauf entstehen. Nur eine Beschäftigung im letzten und in diesem Jahr würde bei einer erneuten Ausweitung der Regelung zu zehn Monaten weniger Renteneinzahlungen führen. Addiert man dazu jeweils drei Monate in den letzten fünf Jahren, kommen über zwei Jahre Versicherungsfreiheit zustande. Viele Beschäftigte üben diese Beschäftigung aber sogar seit Jahrzehnten aus. Sie werden die Einbußen im Rentenalter stark zu spüren bekommen.
Im Falle einer Erkrankung müssen zudem die Arbeitnehmer*innen die Kosten für die Behandlung im Zweifel sogar aus eigener Tasche tragen. Um sich gegen solche Risiken abzusichern, schließen die Landwirte oft private Gruppen-Krankenversicherungen für ihre Erntehelfer*innen ab, die aber nicht den vollen Leistungsumfang der Pflichtversicherung haben. Bei der pandemiebedingten erhöhten Erkrankungsgefahr ist das besonders unverantwortlich.
Die Unterkunft in Deutschland spielt für alle Erntehelfer*innen eine große Rolle. Sie ist Teil des Beschäftigungsverhältnisses und wird direkt vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt. Manchmal werden dazu vom Arbeitgeber auch Dritte eingeschaltet. Diese Bereitstellung von Unterkünften ist nach den Bestimmungen des neuen Arbeitsschutzkontrollgesetzes nach Ansicht des DGB auch erforderlich. Leider wird aber seit Jahren in der Praxis von Gewerkschaften und Beratungsstellen festgestellt, dass die zur Verfügung gestellten Unterkünfte in nicht wenigen Fällen
Die Corona-Krise hat viele dieser Missstände besonders deutlich gemacht. Eine enge Mehrfachbelegung von Unterkünften ging 2020 trotz lebensgefährdender Infektionsgefahr wie gewohnt weiter, es gab ungenügende und unangemessene Sanitäreinrichtungen. Für Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen gab es lediglich unverbindliche "Konzepte", die nicht ausreichend kontrolliert wurden und vielfach ausblieben.
Ausländische Saisonarbeitnehmer*innen sind besonders schutzlos gegen die Vorenthaltung ihrer Rechte. In der Vergangenheit sind diverse Missbrauchsfälle durch die Arbeit von Gewerkschaften und Beratungsstellen aufgedeckt worden. Auch unter Corona-Bedingungen im letzten Jahr war das nicht anders. Im Gegenteil, durch die Infektionsschutz- und Quarantänebestimmungen sowie die besonderen Ein- und Ausreiseregelungen ist die Abhängigkeit der Erntehelfer*innen von ihren Arbeitgebern noch stärker gestiegen.
Es kann nicht hingenommen werden, dass staatliche Regelungen Einfallstore für Missbrauch oder Umgehung liefern und alle zuständigen Stellen die „Augen zudrücken“. Dies kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Landwirtschaft eine „systemrelevante Tätigkeit“ ist. Bei der Anmeldung der Beschäftigung muss grundsätzlich geprüft werden, ob die Voraussetzungen für die kurzfristige Beschäftigung vorliegen. Wegen der schwierigen Abgrenzungsprobleme und der Gefahr des Missbrauchs sollte die Regelung der kurzfristigen Beschäftigung auf Schüler*innen und Student*innen und auf die ursprüngliche Zeitspanne von 50 Tagen im Kalenderjahr begrenzt werden. Alle anderen Arbeitsverhältnisse sollten regulär sozialversicherungspflichtig sein.
Verpflichtende Regelungen zur Gewährleistung eines präventiven Gesundheitsschutzes müssen eingeführt und kontrolliert werden. Insbesondere gehören dazu:
Im Juni 2020 meldeten sich ca. 20 Erntehelferinnen aus Rumänien bei der Beratungsstelle Faire Mobilität in Dortmund. Sie haben am 27. April auf einem Hof in NRW die Arbeit bei der Erdbeerernte aufgenommen. Sie hatten einen Arbeitsvertrag unterschrieben, den sie aber nicht verstanden und der ihnen nicht ausgehändigt worden war. Ihnen wurde gesagt, dass sie 16 Euro pro Tag und pro Person für die Unterkunft bezahlen sollen, obwohl 15 Personen in vier Container-Zimmern von jeweils ca. sechs Quadratmetern wohnten. Es standen nur drei Toiletten und zwei Duschen zur Verfügung. Auch sollten sie 100-150 Euro für die Hinreise (Flug aus Rumänien) bezahlen. Weil es witterungsbedingt nur wenige Erdbeeren gab, arbeiten sie täglich nur drei bis fünf Stunden – zu wenig, die Kosten zu bezahlen.
Für die Beratungsstelle war es sehr schwierig herauszufinden, um welchen Hof es sich dabei überhaupt handelt. Die Frauen konnten ihren Wohn- und Arbeitsort nicht benennen: sie waren vom Flughafen direkt vom Arbeitgeber dahingefahren worden, die Unterkunft war isoliert, in einer ländlichen Gegend.
Auch nach Intervention der Beratungsstelle wollte die Arbeitgeberin die Arbeitsverträge (von denen sie behauptete, dass sie eine Klausel zur Überlassung von Wohnraum und den dazugehörigen Kosten enthielten) den Beschäftigten nicht aushändigen.
Die Arbeitgeberin berichtete, dass sie an eine rumänische Vermittlungsfirma für die Rekrutierung der Frauen über 3000 Euro bezahlt hätte. Die Beschäftigten erzählten auch, dass sie pro Person ca. 60 Euro als Vermittlungsgebühren an die Firma bezahlt hatten.
Nach Intervention der Beratungsstelle wurde den Arbeitnehmer*innen gekündigt und sie sollten am Sonntag darauf nach Rumänien abreisen. Am späten Sonnabend erhielten sie ihren Lohn. Zehn Euro pro Tag und 450 Euro Transportkosten wurden jedoch aus ihrem Mindestlohn einbehalten. Sie erhielten keinerlei Lohnabrechnung oder Nachweis.
Am 24. April wurde die Beratungsstelle von Arbeit und Leben NRW von elf Erntehelfer*innen kontaktiert. Sie waren aus einem Dorf in Rumänien über den Flughafen Düsseldorf für die Arbeit auf einem Erdbeerhof nach Rheinland-Pfalz eingeflogen worden. Vereinbart waren deutsche Arbeitsverträge, sieben Euro/Stunde und kostenfreie Unterkunft. Vor Ort bei der Ankunft wurden die Arbeitsverträge unterschrieben und durch den Arbeitgeber einbehalten, ebenso die Ausweise der Menschen. Sie wohnten ein paar Kilometer von den Feldern entfernt, in improvisierten Räumen in einer Halle, immer zehn Personen in einem Raum. Insgesamt teilten sich ca. 150 Menschen vier Toiletten. Es gab zwei Küchen. Für das Essen (Kartoffeln und Brot) wurde ein Abzug von fünf Euro pro Tag vereinbart. Bis zum 13. Mai hatten sie täglich bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet, auch sonntags. Am 13. Mai wurden die elf Personen ohne Auszahlung mündlich gekündigt und auf die Straße gesetzt. Für vier Tage waren sie obdachlos und liefen zu Fuß bis nach Bonn-Leverkusen. Mit Hilfe der Beratungsstelle konnte eine Rückfahrt für sie organisiert werden. Es bleiben offene Lohnansprüche bestehen. Der WDR hat zu diesen Erntehelfern berichtet.
Die Fachstelle Migration und Gute Arbeit Brandenburg und das Berliner Beratungszentrum Migration und Gute Arbeit (BEMA) betreuten im April 15 rumänische Erntehelfer*innen, die sich bei der rumänischen Botschaft über ihre Arbeits- und Unterbringungsbedingungen beschwerten. Sie waren auf einem Gemüsehof im Spreewald beschäftigt. Sie gaben an, dass u.a.:
Nachdem sich die Beschäftigten beschwert hatten, wurden sie beschimpft und genötigt. Es wurde ihnen gesagt, dass sie nach Ablauf der zweiwöchigen Quarantäne den Hof verlassen sollten. Auf Wunsch der Beschäftigten kamen zu diesem Termin Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen auf den Hof und holten auch die Polizei dazu.
Trotzdem erhielten die Beschäftigten weder Lohn noch Lohnabrechnungen und mussten den Hof mittellos verlassen. Der Arbeitgeber behauptete sogar, dass sie noch Schulden für die Reisekosten bei ihm hätten. Im Anschluss kampierten die Menschen in einem öffentlichen Park, den sie laut Aussage der Polizei nicht verlassen durften. Eine Rückkehr in die Unterkünfte wurde weder vom Arbeitgeber noch von den Erntehelfer*innen gewünscht.
Mehr Informationen zu Erntehelfer*innen bietet die IG BAU.