Deutscher Gewerkschaftsbund

16.11.2012
Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht 03/2012

Stephan Articus: "Der Bund sollte ein Gesamtkonzept vorlegen"

Mehr als eine Million Menschen arbeiten und müssen dennoch ihr Gehalt durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Bezahlt werden diese Leistungen aus kommunaler Hand. Stephan Articus, Vorstandsmitglied des Deutschen Städtetages, fordert ein Gesamtkonzept des Bundes für staatliche Leistungen. 

Der DGB problematisiert die Aufstockung von nicht existenzsichernden Löhnen durch Hartz IV-Leistungen. Wie stellt sich das Problem und die regionale Verteilung der „Aufstocker“ aus Ihrer Sicht dar?

Porträt Dr. Stephan Articus, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Städtetages.

Dr. Stephan Articus, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Städtetages. Deutscher Städtetag

Stephan Articus: Der Deutsche Städtetag hat frühzeitig auf die sogenannte Aufstocker-Problematik im SGB II hingewiesen. Trotz der erheblichen Leistungen der Jobcenter bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt hält sich die Zahl der Erwerbstätigen, die ergänzend auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, seit dem Jahr 2008 kontinuierlich über der 1,3 Mio. Marke. Familien mit Kindern sind besonders häufig betroffen, da die niedrigen Löhne oder Teilzeitbeschäftigungen der Eltern nicht ausreichen, um die Existenz der gesamten Familie abzusichern. Durch die nicht erfolgte gesetzliche Harmonisierung zwischen dem Wohngeldgesetz und dem SGB II unterscheiden sich die Leistungsvoraussetzungen und Leistungsansprüche erheblich. Folge ist, dass der größte Teil der erwerbstätigen Wohngeldbezieher in das SGB II gewechselt ist.

Der Hauptausschuss des Deutschen Städtetages hat zum Beispiel im Februar 2008 seine Forderung bekräftig, dass Bund und Länder der steigenden Zahl von Erwerbstätigen mit aufstockenden Ansprüchen im SGB II gegensteuern müssen durch eine Neugestaltung der Schnittstelle zum Wohngeldgesetz und durch ein schlüssiges Gesamtkonzept bei der Gewährung vorrangiger Leistungen wie Kinderzuschlag und Erwerbstätigenzuschlag. Leider ist ein solches Gesamtkonzept der Bundesregierung noch nicht vorgelegt worden.

Wie bewerten Sie die Vorschläge des DGB zur Einführung von Mindestlöhnen und einer horizontalen Einkommensanrechnung bei Hartz IV?

Die Einführung von Mindestlöhnen kann ein Baustein bei der Überwindung der Aufstocker-Problematik sein, wenn tatsächlich Niedriglöhne gezahlt werden und dadurch das Existenzminimum des Erwerbstätigen nicht gesichert ist. Häufig ist die Problemlage jedoch viel komplexer. Vollzeit-Arbeitsstellen wurden zunehmend durch Teilzeitstellen ersetzt, was den Wünschen vor allem von Arbeitnehmerinnen teilweise sogar entgegenkommt. Diese Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat jedoch auch ihre Schattenseiten. Eine Teilzeitstelle oder die Kombination mehrerer Teilzeitstellen in einer Familie reichen häufig nicht zur Deckung des Existenzminimums aus. Die horizontale Einkommensanrechnung beim Arbeitslosengeld II und bei den Unterkunftskosten wäre aus kommunaler Sicht natürlich ein wichtiger Schritt, um die finanziellen Lasten auf Bund und Kommunen zu verteilen und Druck auf den Bund auszuüben, das von uns geforderte Gesamtkonzept vorzulegen.

Teilen Sie die Auffassung, dass Hartz IV ein Sammelbecken für sehr unterschiedliche soziale Problemlagen ist?

Die Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe hat natürlich dazu geführt, dass die Arbeitslosengeld II-Empfänger sehr unterschiedliche Biografien aufweisen. Teilweise handelt es sich um Personen mit sehr langer Erwerbsbiografie, die aber jetzt aus Altersgründen oder aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen langzeitarbeitslos sind. Andererseits gibt es auch Hilfeempfänger, die noch nie sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Aus der Sozialhilfe heraus kannten wir Familien, die über mehrere Generationen hinweg hilfebedürftig waren. Dramatisch ist die Situation, wenn zum Beispiel Jugendliche und junge Erwachsene keine Schulabschlüsse oder berufliche Qualifikationen erworben haben und daher von Anfang an schlechte Integrationschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Auch die Versäumnisse bei der Integration von Migranten schlagen im Hartz IV-System zu Buche. Gerade in den großen Städten verbergen sich hinter den hohen SGB II-Quoten oftmals stark verfestigte soziale Problemlagen.

 


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