Wenn sich ein Unternehmen in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) umwandelt, dürfen die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten davon nicht beeinträchtigt werden – so will es das europäische Gesetz. Ob dies bedeutet, dass die gewerkschaftlichen Sitze im Aufsichtsrat auch nach der Umwandlung garantiert bleiben, muss nun der EuGH klären.
DGB/Simone M. Neumann
von Rainald Thannisch (DGB)
Hintergrund
Am 18. August 2021 hat das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine für das Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (SE = Societas Europaea) und damit für die Unternehmensmitbestimmung relevante Auslegungsfrage vorzulegen.
Der Hintergrund ist ein Antragsverfahren der Gewerkschaften ver.di und IG Metall gegen die SAP SE.
Das Unternehmen hatte sich im Jahr 2014 von einer Aktiengesellschaft nach deutschem Recht in eine SE umgewandelt. Bei einer solchen Umwandlung wird zwischen einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer*innen (BVG) und der Unternehmensleitung über die Mitbestimmung verhandelt.
Um einen Abbau von Mitbestimmungsrechten zu verhindern, sieht Artikel 4 der Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer jedoch vor, dass „im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden [muss], das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.“
Unstrittig ist beispielsweise, dass die paritätische Besetzung des Aufsichtsrates mit Vertreter*innen von Eigentümer*innen und Aktionär*innen auch nach der Umwandlung in die SE beibehalten werden muss.
Nach gewerkschaftlicher Auffassung gehört zu den von der EU-Richtlinie genannten schützenswerten Komponenten auch die interne Besetzungsstruktur der Arbeitnehmer*innenseite. Denn auf dem produktiven Zusammenspiel von betrieblichen Arbeitnehmervertreter*innen und außerbetrieblichen Gewerkschaftsvertreter*innen im mitbestimmten Aufsichtsrat beruht das „Erfolgsmodell Unternehmensmitbestimmung“. Während die betrieblichen Arbeitnehmervertreter*innen über wichtiges internes Wissen z. B. über die Arbeitsbedingungen vor Ort bzw. über die Betriebsabläufe verfügen, bringen die außerbetrieblichen Gewerkschaftsvertreter*innen anerkanntermaßen vertiefte Branchenkenntnisse sowie rechtliches und wirtschaftliches Wissen in die Aufsichtsratstätigkeit ein und stärken damit die Kompetenz des Aufsichtsrates insgesamt.
Genau diese Frage ist jedoch Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung. Denn bei ihrer Umwandlung in eine SE hatten BVG und Unternehmen vereinbart, dass der Aufsichtsrat perspektivisch verkleinert werden kann. In diesem Fall würde der eigenständige Wahlgang für die Vertreter*innen der Gewerkschaften wegfallen.
Aus Sicht der Gewerkschaften IG Metall und ver.di, die auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund geteilt wird, gehört zu den geschützten Komponenten der Mitbestimmung jedoch auch das gesonderte Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer*innen. Daher wollen die Gewerkschaften vor Gericht durchsetzen, dass die entsprechenden Regelungen in der Vereinbarung nichtig sind.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes
Nachdem der Antrag von ver.di und IG Metall in den Vorinstanzen noch abgelehnt wurde, hat sich das Bundesarbeitsgericht nunmehr inhaltlich der Argumentation der beiden Gewerkschaften angeschlossen.
Nach seiner Auffassung gehören die im gesonderten Wahlverfahren von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter*innen der Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat nach dem deutschen SE-Beteiligungsgesetz zu den prägenden Verfahrenselementen der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland, weshalb gesicherte Sitze und separate Wahl von Gewerkschaftsvertreter*innen im Aufsichtsrat auch in der durch Umwandlung gegründeten SE sicherzustellen sind.
Gleichzeitig macht das Bundesarbeitsgericht jedoch deutlich, dass es „nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit beurteilen“ könne, welche - von den Mitgliedstaaten umzusetzenden - Anforderungen sich aus der EU-Richtlinie ergeben. Daher wird die Frage an den Europäischen Gerichtshof überwiesen.
Die sogenannte „Vorlagefrage“ des BAG lautet:
„Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar?“
Reaktionen aus DGB und Gewerkschaften
Die Gewerkschaften IG Metall und ver.di haben die Entscheidung des BAG begrüßt:
„Das ist ein guter Tag für die Arbeitnehmer*innen und die Gewerkschaften in Deutschland, die mit ihrer Kompetenz und Vielfalt den überbetrieblichen Blickwinkel im Aufsichtsrat stärken“, so Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall.
Auch ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christoph Meister äußerte sich positiv: „Der Versuch, die deutsche Mitbestimmung über eine Vereinbarung bei Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) auszuhebeln, ist zu Recht als europarechtlich relevant eingestuft worden“.
Nun muss der EuGH prüfen, ob das nationale SE-Beteiligungsgesetz mit der EU-Richtlinie vereinbar ist. Die Chancen dazu sind aus gewerkschaftlicher Sicht gut. So spricht der Unternehmensjurist Sebastian Sick von der Hans-Böckler-Stiftung für viele Kolleg*innen aus den Fachkreisen von DGB und Gewerkschaften, wenn er prognostiziert, dass die Luxemburger Richter*innen die Bedeutung überbetrieblicher Arbeitnehmervertreter*innen für das Gesamtsystem der deutschen Mitbestimmung würdigen werden. „Der EuGH hat erst kürzlich in einem anderen wichtigen Fall bewiesen, dass er die Bedeutung nationaler Mitbestimmungsrechte und -praxis versteht und achtet“, sagt der Jurist.
Die Auswirkungen des Verfahrens reichen aus Sicht des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften jedoch über die konkrete Frage der Gewerkschaftsvertreter*innen im Aufsichtsrat von SAP hinaus.
Letztendlich geht es bei diesem Fall auch um die Frage, inwiefern über europäisches Recht nationale Arbeitnehmer*innenstandards geschützt bleiben oder sie auch abgesenkt werden können.