Deutscher Gewerkschaftsbund

11.06.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Mit Brigitte Pothmer

Brigitte Pothmer (Bündnis 90/Die Grünen)

DGB/mindestlohn.de

Die Interviews im Mindestlohn-Bus werden fortgesetzt. Bei dieser Fahrt sprach Brigitte Pothmer (Bündnis 90/Die Grünen) mit Reinhard Dombre im Mindestlohn-Bus über die Notwendigkeit des Mindestlohns und die Position ihrer Partei dazu. Pothmer ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 EUR auf dem Bus, in dem wir fahren?

Brigitte Pothmer: Ich fahre gerne Bus und Bahn. Und für den Mindestlohn bin ich sowieso. Das ist eine gute Form, die politische Forderung im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße zu bringen. Der „Mindestlohn-Bus“ wird viele BerlinerInnen aufmerksam machen.

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Brigitte Pothmer: In keinem anderen Industrieland ist die Niedriglohnbeschäftigung in den letzten Jahren so stark gestiegen wie in Deutschland. Die hohe Arbeitslosigkeit, das daraus resultierende Überangebot an Arbeitskräften, die Entwicklung der Leiharbeit, die abnehmende Tarifbindung und die Abgabenlast haben dazu beigetragen, dass gerade die kleinen Einkommen immer weiter unter Druck geraten sind. Und wesentlich ist: Es gibt in vielen Branchen keinen Mindestlohn.
Daran hat sich in den vergangenen vier Jahren kaum etwas verändert. Stattdessen ist die Zahl derjenigen, die neben ihrem Einkommen ergänzendes Arbeitslosengeld II beziehen müssen, um über die Runden zu kommen, immer weiter angestiegen. Die knapp 1,3 Millionen Betroffenen belegen: Schwarz-Rot hat das Arbeitslosengeld II als flächendeckenden Kombilohn etabliert.

Welche Auffassung vertreten Sie, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Brigitte Pothmer: Wer Vollzeit arbeitet, muss davon leben können. Um das zu erreichen, müssen sich die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt ändern. Im Telegrammstil heißt das für uns Grüne: Mindestlöhne für alle ohne wenn und aber, eine Reform der Leiharbeit, die Bekämpfung der Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männer und entschärfte Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose.
Außerdem wollen wir kleine Einkommen gezielt bei den Sozialabgaben entlasten, damit am Ende mehr im Geldbeutel landet. Das gelingt mit unserem grünen Progressiv-Modell. Das sorgt auch gleichzeitig für die Abschaffung der Minijobs, die sich insbesondere für Frauen als Niedriglohnfalle erwiesen haben.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Brigitte Pothmer: Aufgabe der Politik ist es, die Grundlagen und Rahmenbedingungen für diese Veränderungen zu schaffen, beispielsweise mit Mindestlohngesetzen und der Einrichtung einer Mindestlohn-Kommission.

Welche Position vertritt Bündnis 90 / Die Grünen im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bzgl. Existenz sichernder Mindestlöhne?

Brigitte Pothmer: Flächendeckende Mindestlöhne stehen weit oben auf der grünen Agenda. Das Flickwerk muss weg. Darum wollen wir eine Mindestlohn-Kommission nach britischen Vorbild einrichten, in der Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Wissenschaft vertreten sind. Die Kommission ist zuständig für die Festlegung einer absoluten Lohnuntergrenze, wobei wir dafür mindestens 7,50 Euro pro Stunde empfehlen. Weniger soll niemand verdienen.
Darüber liegende Mindestlöhne werden in den Branchen verhandelt. Dafür sind zunächst einmal die Tarifparteien zuständig. Sind sie nicht stark genug, sorgt die Kommission für faire Mindestlöhne.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Brigitte Pothmer: Jenseits der juristischen Frage: Eine Gesellschaft, die den Anspruch hat, sozial und gerecht zu sein, kann Beschäftigungsverhältnisse unterhalb eines bestimmten Lohnniveaus nicht tolerieren. Niedriglöhne verstoßen eindeutig gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. In den letzten Jahren ist die Lohnschere immer weiter auseinander gegangen. Während es unten und in der Mitte zu Reallohnverlusten kam, explodierten die Einkommen im oberen Bereich. Diese Entwicklung ist Gift für den solidarischen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Flächendeckende Mindestlöhne sind zumindest ein Schritt, um dem entgegenzuwirken.

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Brigitte Pothmer: Ich bin der Auffassung, dass die aktuellen Krisen - die Finanzmarktkrise, der Klimawandel und die Welternährungskrise - ein globales Markt- und Staatsversagen offenbart haben. Wir brauchen darum einen effektiven Ordnungsrahmen. Die Globalisierung bedarf umfassender ökologischer, ökonomischer und eben auch sozialer Regulierung. Dafür steht unser grüner New Deal. Niedriglöhne haben darin keinen Platz.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Brigitte Pothmer: Nein, es würde fairer zugehen. Die Qualität der Leistung wird dann zum entscheidenden Kriterium im Wettbewerb. Darum sind auch immer mehr Arbeitgeber für Mindestlöhne – nicht nur ihre Beschäftigten, sondern auch ihre Geschäfte leiden unter dem jetzigen Unterbietungswettbewerb durch Lohndumping.

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Brigitte Pothmer: Deutschland ist der Außenseiter. Neben den 20 Staaten mit Mindestlöhnen sichern weitere sechs Länder mit tariflichen Lösungen faire Löhne. Nur bei uns gibt es keine flächendeckende Lösung, die Lohndumping verhindert.

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?

Brigitte Pothmer: Wäre es nach uns Grünen gegangen, dann gäbe es in Deutschland schon jetzt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Abschottungspolitik der rot-schwarzen Koalition ist falsch, denn sie hängt uns damit im Wettbewerb um die besten Hände und Köpfe ab.
Offene Grenzen setzen natürlich zwingend eine Lohnuntergrenze und flächendeckende Mindestlöhne voraus, wenn man nicht Unterbietungswettbewerb und Lohndumping Tür und Tor öffnen will. Ich bin überzeugt, dass wir in Sachen Mindestlohn in Deutschland schon viel weiter wären, wenn SPD und Union souveräner mit der europäischen Freizügigkeit umgegangen wären.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Brigitte Pothmer: Dafür ist es allerhöchste Zeit. Wir sehen weiteren Änderungsbedarf. Die Zeitarbeit hat die Erwartungen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt nicht erfüllt. Statt dessen wird Leiharbeit immer häufiger dazu genutzt, um Standards zu unterlaufen. Lohndumping, die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und der gezielte Ersatz von Stammbelegschaften durch LeiharbeitnehmerInnen gehören dazu. Unsere Verbesserungsvorschläge haben wir in den Deutschen Bundestag eingebracht.

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, z.B. Niedriglohnbeschäftigte?

Brigitte Pothmer: Die Konjunkturprogramme der Bundesregierung sind diffus und ohne Gestaltungsanspruch. So verpufft das Geld. Wir Grünen haben klare Vorschläge gemacht, wie die Konjunkturmittel wirkungsvoll eingesetzt werden können. Wir brauchen Investitionen in Klimaschutz, in Bildung und in soziale Gerechtigkeit. Das heißt zum Beispiel mehr Studienplätze und die Erhöhung des Arbeitslosengelds II auf 420 Euro.
Nur mit Zukunftsinvestitionen lässt sich die Rekordneuverschuldung rechtfertigen und ein Nutzen für kommende Generationen erzielen. Unsere Vorschlägen für nachhaltige Investitionen können eine Million neuer Jobs schaffen.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Brigitte Pothmer: Mindestlöhne sind mehr als eine gesetzliche Regelung zugunsten von NiedriglohnempfängerInnen. Er ist auch eine Antwort auf die Frage, ob Politik sich als Schutzschild für die kleinen Leute versteht.


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