Deutscher Gewerkschaftsbund

19.09.2019
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt wirtschaftspolitische „Vision“ vor

Baustelle mit Aussicht

von Judith Vorbach (AK Oberösterreich), Susanne Wixforth und Lukas Hochscheidt (beide DGB)

Mit einer Stellungnahme zur Zukunft der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion setzt der EWSA ein klares Zeichen: Zivilgesellschaft und Sozialpartner wollen nicht weiter dabei zusehen, wie der Streit zwischen den Mitgliedstaaten die EU in die nächste Krise treibt. Daher fordern die Expert*innen eine Fertigstellung der geldpolitischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Säule der EU.

Europäische Flagge auf einer Mauer mit Schatten einer Menschenkette

DGB/lightwise/123RF.com

Am 1. November 2019 tritt die neue EU-Kommission ihr Amt an. Der Beginn der Legislaturperiode wird zwar frischen Wind nach Brüssel bringen und neue Themen auf die Agenda setzen. Doch auch alte Probleme werden die EU weiter beschäftigen: allen voran die Folgen der „Euro-Krise“, unter denen viele Mitgliedstaaten bis heute leiden. Während  sich bereits eine erneute wirtschaftliche Eintrübung abzeichnet und auch schwere Krisen nicht gebannt sind dulden die seit Jahren überfälligen Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) keinen Aufschub mehr.

Vor allem bei den Beschäftigten, die unter dem drohenden Konjunkturabschwung am meisten leiden würden, ist die Angst vor der nächsten Krise groß. Denn nicht nur die makroökonomische Widerstandsfähigkeit der WWU lässt zu wünschen übrig, sondern auch die von Noch-Kommissionschef Juncker angestoßenen sozialpolitischen Reformen – und mit ihnen die soziale Absicherung der Bürger*innen im Falle eines Wirtschaftseinbruchs. Dies liegt nicht zuletzt an der stiefmütterlichen Umsetzung der Versprechen aus der Europäischen Säule Sozialer Rechte, die 2017 verabschiedet wurde.

Zivilgesellschaft fordert politisches Handeln

Angesichts eines Richtungsstreits zwischen den Mitgliedstaaten – mehr oder weniger Europa? –, der den politischen Prozess ins Stocken bringt, rufen die Sozialpartner zu konkretem Handeln auf. Auch die Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) haben im Juli 2019 eine Initiativstellungnahme über „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ verabschiedet, die auf relevante Fragestellungen aufmerksam macht und Empfehlungen an das neue EU Parlament und die neue Kommission richtet. Der EWSA ist die Stimme der Sozialpartner und weiterer Gruppen der europäischen Zivilgesellschaft Als beratende Instanz nimmt er Stellung zu aktuellen Debatten und europäischen Gesetzesvorhaben und richtet sich dabei an die europäischen Institutionen. Der EWSA wirkt somit als Bindeglied zwischen den europäischen Bürger*innen und den politischen Entscheidungsträger*innen in Brüssel.

Kein Haus ohne festes Fundament

Die Vorschläge des EWSA zur „Vollendung“ der WWU können mit dem Bau eines Hauses verglichen werden: Zunächst bedarf es eines tragfähigen Fundaments. Die Widerstandsfähigkeit gegen Krisen ist dabei unbedingt notwendig, aber nicht hinreichend. Die Staatengemeinschaft muss sich auch weiter entwickeln und braucht dafür wieder eine positive Vision für die Zukunft. Erst wenn die Bürger*innen das Gefühl haben, dass die EU eine langfristige und sich lohnende Strategie verfolgt, werden sie wieder Vertrauen in die europäische Integration gewinnen.

Diese neue Vision muss mit konkreten Inhalten gefüllt werden, wobei die Verringerung von Ungleichheiten, inklusives Wachstum, die Bewältigung der Klimakrise und die Bekämpfung von Armut zu den höchsten Prioritäten zählen. Hierfür bedarf es eines klaren Bekenntnisses zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, ganz im Sinne des in Artikel 3 EU-Vertrag versprochenen „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt[s]“. Auf dieses sichere Fundament lassen sich dann die vier Säulen der WWU gründen: die geldpolitische, die wirtschaftliche, die soziale und die politische Säule. 

Vier Säulen

Die geldpolitische Säule verlangt nach einer Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion, wobei folgende Ziele Priorität haben müssen: stabile und krisenfeste Finanzmärkte, sodass es nicht erneut zu Belastungen der öffentlichen Haushalte kommt, Einbeziehung der sozialen Folgen der Regulierung und des Klimaschutzes sowie Verbraucherschutz.  

Die wirtschaftliche Säule muss so ausgebaut werden, dass die europäischen Volkswirtschaften zu einem nachhaltigen und fairen Wirtschaftsraum werden. Vor allem auch die Nachfrageseite muss verstärkt gefördert werden. Der EWSA spricht sich in diesem Sinn für eine Stärkung der Tarifsysteme, gemeinsame Standards für Mindesteinkommenssysteme und eine schnelle Einrichtung der Europäischen Arbeitsbehörde aus, die sich bei der Bekämpfung von grenzüberschreitendem Sozialdumping einbringen soll. Qualitative Arbeit und soziale Sicherheit wirken sich positiv auf die Kaufkraft aus. Aber auch die Förderung von Investitionen ist längst überfällig, etwa durch eine „goldene Regel“, die die EU-Defizitregeln für wichtige Zukunftsinvestitionen lockert.

Zur „Vollendung“ der wirtschaftlichen Säule gehört auch ein gemeinsamer EU-Haushalt, der aus einem gemeinsamen europäischen Schuldtitel finanziert werden kann. Ein*e EU-Wirtschafts- und Finanzminister*in könnte die Koordination übernehmen, muss jedoch dem EU Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Mittels einer europäischen Arbeitslosen(rück)versicherung könnten die Folgen asymmetrischer Schocks – also Wirtschaftskrisen, die die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Intensität treffen – abgefedert werden. Diese soll die nationalen Arbeitslosenversicherungen nicht ersetzen, sondern im Krisenfall mit zusätzlichen Mitteln ausstatten. Auch soll das Konzept adäquater Standards für die nationalen Arbeitslosenversicherungen weiterverfolgt werden.

Die soziale Säule muss im Vergleich zu den bereits weiter entwickelten finanziellen und wirtschaftlichen Säulen dringend aufholen. Hohe soziale Mindeststandards – u.a. für Mindesteinkommen und -löhne – sowie die Gleichstellung von wirtschaftlicher und sozialer Aufwärtskonvergenz bei der ökonomischen Koordinierung der Mitgliedstaaten sind hier wichtige Schritte.

Die vierte und letzte Säule ist die politische Dimension. Angesichts der Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist, müssen sowohl das EU-Parlament als auch zivilgesellschaftliche Gremien wie der EWSA an zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen beteiligt werden. Nur so können die vielschichtigen Bedürfnisse der europäischen Bürger*innen Gehör finden und verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Arbeitnehmer*innen-Gruppe: zufrieden, aber nicht alles erreicht

Für den EWSA und insbesondere die Arbeitnehmer*innen-Gruppe, aus deren Reihen auch die Berichterstatterin der Stellungnahme, Judith Vorbach, kommt, ist die Vorlage dieser „neuen Vision“ für die WWU ein guter Auftakt in die nächste Legislaturperiode. Nun gilt es weiter am Ball zu bleiben und den politischen Prozess zu begleiten.

Die Arbeitnehmer*innen-Gruppe konnte mit der Initiative für diese Stellungnahme viele Anliegen der europäischen Beschäftigten aufgreifen und in die gemeinsame Position des EWSA einfließen lassen. Vor allem in zwei Punkten jedoch konnten sich die Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertreter*innen nicht durchsetzen: Die Forderung nach einem sozialen Fortschrittsprotokoll, das sozialen Grundrechten Vorrang vor den Marktfreiheiten und Wettbewerbsregeln einräumt, wurde nicht in die Stellungnahme aufgenommen. Man einigte sich schließlich auf die Forderung nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen einer soliden wirtschaftlichen Grundlage und einer starken sozialen Dimension. Ebenso wenig gelang es, statt eines „mit umfassenden Ressourcen ausgestatteten Kommissars“ für soziale Belange eine*n echte*n EU-Arbeitsminister*in in die Beschlussfassung aufzunehmen. So wird das Ziel eines gleichwertigen Pendants zum*r explizit benannten „Minister*in für Wirtschaft und Finanzen“ nur teilweise erreicht.

Eine Frage des politischen Willens

Damit die vier Säulen nicht ins Wanken geraten und das Haus Europa zum Einsturz bringen, müssen sie in Balance gebracht werden. Denn nur wenn die verschiedenen Dimensionen der wirtschaftspolitischen Integration ausgeglichen sind, können sich konstruktive Wechselwirkungen zwischen ihnen herausbilden, wie zum Beispiel die Ankurbelung der Konsumnachfrage durch eine verbesserte soziale Sicherheit. Der status quo ist hier ein lehrreiches Negativbeispiel: Da die soziale Säule gegenüber den wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten viel zu schwach ausgeprägt ist, mussten in der Vergangenheit vor allem die Beschäftigten und Konsument*innen für die Webfehler der WWU bezahlen, etwa in Form von Arbeitslosigkeit oder bei einer Kürzung von Sozialausgaben, was die Krise erneut befeuerte.

Schafft man stattdessen einen Ausgleich zwischen geldpolitischer, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Integration, so kann aus einer wackeligen Konstruktion ein solides Gerüst werden. Das beste Werkzeug für die zuständigen „Statiker*innen“ sind Solidarität und der politische Wille an einem gemeinsamen Strang ziehen. Dies ist die beste Basis für Wohlstand und Frieden innerhalb der EU und auch für ihre internationale Bedeutung.   


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