Was passiert mit den Rechten von Beschäftigten, wenn eine Firma ihren Sitz in einen EU-Mitgliedstaat verlegt, der keine Mitbestimmung kennt? Diese Frage wird im Unternehmensrechts-Paket beantwortet, das das EU-Parlament nun verabschiedet hat. Aus Gewerkschaftssicht werden zwar Fortschritte im Sinne der Beschäftigten gemacht – doch es bleibt noch viel zu tun, um Mitbestimmung wirksam zu schützen.
Im Gegensatz zu den sozialen Rechten genießen die wirtschaftlichen Freiheiten auf dem europäischen Binnenmarkt Verfassungsrang. Eine der vier geschützten Grundfreiheiten ist die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen: Europäische Firmen können ihren Sitz innerhalb der EU frei wählen und bei Bedarf verlegen. Was in der Theorie gut und richtig klingt, wirft in der Praxis gewichtige Fragen auf.
Was passiert beispielsweise mit den Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten, wenn ein Unternehmen seinen Sitz in einen Mitgliedstaat mit niedrigeren Standards verlegt? Verlieren die Beschäftigten – obgleich sich an Art und Ort ihrer Tätigkeit nichts ändert – den Anspruch auf kollektive Mitbestimmung? Ein neues europäisches Gesetzespaket zum Unternehmensrecht hat sich dieser Fragen angenommen. Die Antworten gehen teilweise in die richtige Richtung, weisen aus gewerkschaftlicher Sicht aber auch beträchtliche Schwachstellen auf.
Nach langen Diskussionen hat das Europäische Parlament am 18. April 2019 das sogenannte Company Law Package (Unternehmensrechts-Paket) beschlossen. Die finale Zustimmung des Minister*innenrats steht noch aus, gilt jedoch als sicher. Das Gesetzespaket beinhaltet zwei Richtlinien: eine zur Online-Gründung von Kapitalgesellschaften (in Deutschland bezogen auf die Rechtsform der GmbH) und eine zweite zur grenzüberschreitenden Umwandlung, Verschmelzung und Spaltung von Unternehmen.
Insbesondere die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität hat potentiell bedeutsame Auswirkungen auf die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland. Sie schafft Regelungen für den Fall, dass sich deutsche Kapitalgesellschaften in einem anderen EU-Staat ins Unternehmensregister eintragen lassen. Diese Regelungen wurden notwendig, nachdem der Europäische Gerichtshof die grenzüberschreitende Mobilität von Unternehmen durch seine Urteile sukzessive und einseitig gestärkt hatte.
Vor allem das Urteil im Fall „Polbud“ aus dem Jahr 2017 hat die Notwendigkeit einer Regelung im Sinne der Mitbestimmung offengelegt: Laut den Richter*innen ist es Firmen gestattet, die Rechtsform eines anderen Mitgliedstaats anzunehmen, ohne auch nur einen Teil ihrer Betriebsaktivität in dieses Land zu verlagern.
Diese weitverbreitete Praxis, bei der Unternehmen sich aus dem bunten Strauß an unterschiedlichen Regelungen, die die EU-Mitgliedstaaten bereit halten, diejenigen aussuchen, die am wenigsten Verpflichtungen für sie mitbringen, nennt man „Forum Shopping“.
Was aber genau passiert mit der Unternehmensmitbestimmung, wenn das Zielland keine Mitbestimmung kennt? Wenn also ein bislang mitbestimmtes Unternehmen eine grenzüberschreitende Umwandlung nach Malta oder Estland vornimmt?
Ohne die neue Richtlinie hätte ein solches Unternehmen die bestehende Unternehmensmitbestimmung abstreifen können wie einen alten Mantel. Daher war es richtig, dass die europäischen Institutionen Regelungen vorgelegt haben, die sich teilweise an denen der Europäischen Aktiengesellschaft orientieren.
Sehr problematisch bleibt jedoch, dass diese Regelungen Schlupflöcher beinhalten, mit denen es trickreichen Unternehmen gelingen kann, die paritätische Unternehmensmitbestimmung dauerhaft zu vermeiden oder sich ihr nach einigen Jahren gänzlich zu entziehen. Mitbestimmungsrechte sollen im Falle der Verlegung des Firmensitzes in einen anderen Mitgliedstaat nämlich nur vier Jahre lang geschützt bleiben.
Diese Schlupflöcher kennen wir bereits aus der langjährigen Erfahrung mit der Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft und dem Europäischen Verschmelzungsrecht, auf die der Europäische und der Deutsche Gewerkschaftsbund nachdrücklich aufmerksam gemacht haben. Sie hätten vermieden werden können, wenn sich die Europäischen Institutionen auf die überzeugenden ursprünglichen Vorschläge des Europäischen Parlaments geeinigt hätten, in denen wirksame gewerkschaftliche Vorschläge aufgegriffen wurden. Leider jedoch haben nationale Regierungen durch ihren Widerstand im Minister*innenrat einen echten Fortschritt verhindert.
Die neuen EU-Regelungen enthalten kleinere Fortschritte, die wir begrüßen. Insgesamt sind sie jedoch nicht präzise und wirkungsvoll genug, um eine missbräuchliche Nutzung der grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität auszuschließen.
Der DGB fordert die Europäischen Institutionen daher nachdrücklich dazu auf, diese Defizite durch eine Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung, Anhörung und Unternehmensmitbestimmung auszugleichen. Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag wiederum sind aufgefordert, bei der nun anstehenden Umsetzung in nationales Recht ihren Spielraum so zu nutzen, dass die Gefahren des Missbrauchs eingedämmt werden.