Deutscher Gewerkschaftsbund

22.04.2020
Die soziale Union am Scheideweg

Austritt der Vorreiter?

von Susanne Wixforth (DGB)

Kann die Europäische Säule Sozialer Rechte eine Basis für die Weiterentwicklung der sozialen Dimension der EU sein? Oder endet das Soziale dort, wo auch die nationalen Sicherungssysteme für Beschäftigte enden: nämlich an den nationalen Grenzen? Ein Blick nach Ungarn – und in den europäischen Norden.

Mehrere Europafahnen wehen auf einer Demonstration im Wind

DGB

Orbáns Ungarn: Sozialstaat im Ausverkauf   

Unter Ministerpräsident Viktor Orbán ist Ungarn nicht gerade zum EU-Musterschüler geworden: Zuletzt machte das Land mit der am 30. März erlassenen Notstandsverordnung zur Corona-Krise Schlagzeilen, die Orbán als Kopf der Exekutive bedenklich weitreichende Befugnisse erteilte. Nur wenige Tage später urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Verweigerung einiger Mitgliedstaaten – darunter Ungarn – , in den Jahren 2015 bis 2017 am europäischen Verteilmechanismus für Geflüchtete teilzunehmen, einen Verstoß gegen EU-Recht darstellt.

Zur Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR) hat Orban praktisch keine Beziehung. Er gilt als der Regierungschef, der die ESSR seinerzeit am heftigsten ablehnte. Seit 2017 tut er alles, um ihre tatsächliche Umsetzung in Ungarn zu torpedieren. Ungarn ist das einzige Land der EU ohne Arbeits- oder Sozialministerium. Dreigliedrige Sozialpartner-Konsultationen gibt es nicht mehr. Folge ist die zunehmende Lockerung des Kündigungsschutzes und ein extrem niedriges Leistungsniveau der sozialen Sicherheit: nur 90 Tage Arbeitslosengeld, das Kindergeld wurde acht Jahre in Folge nicht erhöht und nicht einmal der Inflation angepasst.

Die ungarischen Gewerkschaften setzen angesichts des Rückbaus sozialer Rechte und Leistungen durch ihre Regierung große Hoffnungen in die ESSR. Sie sehen die EU in der Pflicht, die Regierung Orbán auf Basis der ESSR zu mehr Zugeständnissen zu bewegen, v.a. in den Bereichen sichere Arbeitsbedingungen, Mindestlöhne und Verbesserung der Rechte von Kindern und Jugendlichen.

Zwischen Konvergenz und „brain drain“

Anders steht es um die sozialen Rechte in den Ländern des europäischen Nordens, die in der sozialdemokratischen Tradition eines starken und großzügigen Wohlfahrtstaats stehen. Ihre Sicht auf den status quo in der EU ist folglich eine andere: Die vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten lenken das Kapital dorthin, wo größerer Wohlstand herrscht. Daraus ergibt sich eine Aufspaltung des Arbeitsmarktes, die eine Fachkräfteabwanderung v.a. aus den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten nach West- und Nordeuropa („brain drain“) mit sich bringt. Sowohl in Dänemark als auch in Finnland werden das gut ausgebaute soziale Sicherheitssystem sowie das Bildungssystem gezielt für die Anwerbung junger, gut ausgebildeter Menschen eingesetzt.

Für die osteuropäischen Staaten ist eine europäische Aufwärtskonvergenz daher essentiell, um die volle wirtschaftliche Integration in den Binnenmarkt zu erreichen. So hat das ungarische BIP erst 68% des durchschnittlichen EU-BIP erreicht. Der Mindestlohn betrug lange Zeit 2,85 €. Er wurde nach Sozialpartnerverhandlungen 2019 auf 464 €/ Monat (um 8%) erhöht und soll 2020 um weitere 8% erhöht werden, bleibt aber weiterhin in der Gruppe der vier Länder mit den niedrigsten Mindestlöhnen der EU.

Für die nordischen Mitgliedstaaten fehlt mit Blick auf die ESSR das Wesentliche: eine klare Kursvorgabe, wie die wirtschaftlich weniger entwickelten Mitgliedstaaten die vereinbarten Schwerpunkte erreichen sollen. Deshalb ist die soziale Säule für die Skandinavier ein zweischneidiges Schwert: Sie ist zwar einerseits ambitioniert ausgelegt und strebt einen Wohlfahrtsstaat auf EU-Ebene an. Andererseits ist fraglich, ob die europäischen Zielvorgaben tatsächlich geeignet sind, wo doch bereits die EU-2020-Strategie für Wachstum und Beschäftigung gescheitert ist. Das Problem: Solange die Mitgliedstaaten frei über die Interpretation von Standards und ausreichenden Leistungen entscheiden dürfen, werden diese die EU nicht zum Ziel führen.

Nordischer „Wohlfahrts-Chauvinismus“

Schweden und Dänemark sehen im Universalismus den Kern ihres Wohlfahrtstaates. So waren in Dänemark die Sozialleistungen schon immer bürgerbezogen und stehen damit jeder und jedem offen. Vor der Finanz-, Wirtschafts- und sogenannten Flüchtlingskrise waren weder die EU noch der Zugang zum sozialen Sicherungssystem ein Thema. Das änderte sich seither drastisch: In Dänemark hat ein „Wohlfahrts-Chauvinismus“ Konjunktur, der in ausländischen Arbeitskräften – ob aus der EU oder aus Drittstaaten – eine wirtschaftliche Bedrohung dänischer Jobs sieht.

Dabei wird die Konkurrenz seitens EU-Bürger*innen als noch stärker empfunden, da diese ein Recht auf Zugang zu Sozialleistungen unabhängig von ihrem Beitrag zum System haben. Es wurde daher ein duales System entwickelt: einerseits maßgeschneiderte Leistungen nur für dänische Staatsbürger*innen – insbesondere Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung und Kindergeld –, andererseits ein System für nicht-dänische Staatsbürger*innen. Im Moment würde jeder politische Vorschlag, der auf eine Ausweitung der europäischen Kompetenzen in diesem Bereich zielt, extrem negativ wahrgenommen.

Insgesamt sehen die nordischen Mitgliedstaaten im Narrativ der Konvergenz vor allem das Risiko einer Abwärtskonvergenz. Es ist klar abzusehen, wo die Gefahr für einen weiteren EU-Austritt liegt: Bei einem Austritt der Vorreiter.

Positiver Ausblick

Das Szenario weiterer Austritte ist jedoch längst nicht die einzige Perspektive. Ganz im Gegenteil: Wird die ESSR mit politischem Geschick umgesetzt, so birgt sie großes Potential für eine nachhaltige Stärkung des europäischen Projekts. Dabei ist es wesentlich, auf die demokratische Legitimation zu achten: Je mehr die Bürger*innen hinter einer Maßnahme stehen, desto einfacher ist es, sie umzusetzen. In Bereichen, bei denen sich die europäische Ebene geradezu aufdrängt, ist eine Vergemeinschaftung leichter zu vermitteln: Es könnte bspw. die Unterstützung Geflüchteter aus einem gemeinsamen EU-Topf erfolgen.

Auch der DGB stellt dem negativen nordischen Blick auf die Umsetzung der ESSR eine positive Vision entgegen: Zwar ist der Austritt des Vereinigten Königreichs ein sehr ernst zu nehmendes Warnsignal. Doch der Brexit hat auch den Zusammenhalt zwischen den verbliebenen Mitgliedstaaten gestärkt. Dieses Momentum muss jetzt genutzt werden, um mit einer Harmonisierung von Mindeststandards im Arbeits- und Sozialrecht ein Zusammenwachsen der EU zum Vorteil der EU-Bürger*innen zu bewirken. Die ESSR ist eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung der drei beteiligten europäischen Institutionen und aller Mitgliedstaaten. Ihre erfolgreiche Umsetzung ist eine Chance, um die zentrifugalen Kräfte einzufangen. So kann die ESSR zum Schutzschild gegen den radikalisierten Binnenmarkt werden.


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