Deutscher Gewerkschaftsbund

07.05.2021

Freihandel ohne soziales Rückgrat: Warum das Nachhaltigkeitskapitel des EU-Südkorea-Handelsabkommens scheitern musste

von Simone Müller (DGB)

Südkorea war in der öffentlichen Wahrnehmung zuletzt als Musterkandidat in der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie aufgefallen. Aus Sicht der EU steht die junge Demokratie in Ostasien jedoch verstärkt in der Kritik: Seit Jahrzehnten versäumt die Republik Korea den Schutz ihrer Arbeitskräfte und steht ihren europäischen Partnern nun in einem Handelsstreit gegenüber.

Zwei Schiffscontainer, links mit der koreanischen Flagge und rechts mit Flagge der Europäischen Union

DGB/inkdrop/123rf.com

Werteorientierter Freihandel

Das Freihandelsabkommen der EU mit Südkorea, seit 1.7.2011 in Kraft, ist das erste aus einer Liste von Abkommen „neuer Generation“, die die EU mit ihren führenden Handelspartnern abzuschließen sucht. „Neu“ ist daran, dass darin nicht länger nur Zollbefreiungen oder ein erleichterter Warenverkehr geregelt werden, sondern auch Themen wie Investitionen, Wettbewerb, nachhaltige Entwicklung und gute Arbeit Teil des Abkommens sind. Die EU strebt damit an, über die Handelspolitik eine „Förderung europäischer Normen und Werte“ in der Welt zu erreichen.

Konkret geht es im aktuellen Streit zwischen Südkorea und der EU um das Kapitel 13 „Handel und nachhaltige Entwicklung“ des Abkommens, das neben wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung auch den Umweltschutz als wichtiges Element der Handelsbeziehungen vorsieht und menschenwürdige Arbeit als Schlüsselbegriff für nachhaltige Entwicklung versteht. Unter anderem wird darin die „Förderung von Handel mit fairen bzw. ethischen Waren“ verankert und die perspektivische Ratifizierung aller Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) durch Südkorea vereinbart.

Als die koreanische Regierung 2014 zum wiederholten Male eine Novelle des Arbeits- und Gewerkschaftsrechts verkündete, demonstrierten tausende Gewerkschafter*innen gegen die damit verbundenen Verschlechterungen. Unter anderem wurde dort eine Neudefinition des Arbeitnehmerbegriffs vorgenommen, die faktisch zum Ausschluss bestimmter Beschäftigtengruppen von der Vereinigungsfreiheit führt. Das betrifft sowohl Angestellte im öffentlichen Dienst oder Lehrer*innen als auch Selbstständige und Arbeitslose. Insgesamt etwa 2,3 Millionen Arbeitnehmer*innen werden dadurch die Gründung eines Betriebsrats oder der Beitritt zu einer Gewerkschaft verwehrt. Auf dieser Grundlage hat das Arbeitsministerium zum Beispiel einer Gruppe von selbstständigen Nachhilfelehrer*innen das Recht verweigert, eine Gewerkschaft zu gründen.

Obwohl die Demonstrationen gegen die Gesetzesänderung vorher behördlich genehmigt worden waren, wurden diese aktiv von der Polizei blockiert. Gewerkschaftsmitglieder wurden verhaftet, darunter der Präsident des Koreanischen Gewerkschaftsbundes, der später unter anderem wegen „illegaler Demonstrationen“ zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde (eine Revision des Urteils führte zur Reduzierung der Haftstrafe auf drei Jahre).

Die EU hat nun wegen der Verletzung der Vereinbarungen im Nachhaltigkeitskapitel ein Verfahren gegen Südkorea angestrengt. Unter der Prämisse der „menschenwürdigen Arbeit“ sieht dieses nämlich vor, dass beide Vertragsparteien die Kernarbeitsnormen der ILO ratifizieren, fördern und umsetzen. Diese beinhalten Regelungen zur Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf Kollektivverhandlungen, zur Beseitigung von Zwangsarbeit und Diskriminierung sowie zur Abschaffung von Kinderarbeit. Außerdem sollen beide Vertragsparteien „beständig und nachhaltig die Ratifizierung aller als aktuell eingestuften Übereinkommen“ der ILO anstreben.

Südkorea hat von allen aktuell gültigen 190 Übereinkommen und sechs Protokollen bisher nur 29 ratifiziert. In den beinahe zehn Jahren seit Inkrafttreten des Handelsabkommens ist Korea hier seinen Teil schuldig geblieben, lediglich das Seearbeitsabkommen wurde zusätzlich unterzeichnet. Von den acht Kernarbeitsnormen ist die Hälfte immer noch nicht ratifiziert worden und eine baldige Unterzeichnung lassen die Vorgänge rund um das neue Gewerkschaftsgesetz nicht vermuten. Demzufolge werden nun beispielsweise bestehende Gewerkschaften als illegal erklärt, die (vor der Änderung) von Personen gegründet worden waren, die nun nicht mehr unter den Begriff des*der „Arbeitnehmers*in“ fallen, und neu gegründete Beschäftigtenvertretungen müssen von der Regierung genehmigt und registriert werden. Das steht in direktem Widerspruch zu den zwei wichtigsten bisher von Südkorea nicht ratifizierten ILO-Kernarbeitsnormen Nr. 87 und 98, welche die Vereinigungs- und Tariffreiheit garantieren.

Schlichtung statt Streitbeilegung

Freihandelsabkommen enthalten normalerweise auch ein Streitbeilegungsverfahren bei Uneinigkeit über die Umsetzung der darin geregelten Maßnahmen. Das Nachhaltigkeitskapitel ist hier jedoch explizit von einem solchen Verfahren ausgenommen. Stattdessen soll ein Ausschuss für Handel und Nachhaltigkeit die Umsetzung des Kapitels überwachen und im Streitfalle ein Schlichtungsverfahren einleiten. Dafür wird eine externe Sachverständigengruppe eingeschaltet, für die jeder Vertragspartner (also EU und Südkorea) je ein Mitglied aus einer bereits im Abkommen enthaltenen Liste von Personen bestellt. Diese Gruppe wählt sich dazu eine*n unabhängige*n Vorsitzende*n und holt neben Stellungnahmen beider Vertragsparteien auch externe Gutachten, z.B. von Gewerkschaften oder Internationalen Organisationen, ein.

Danach hat die Sachverständigengruppe 90 Tage Zeit, um einen Bericht mit entsprechenden Handlungsempfehlungen zu verfassen. Deren Umsetzung wird vom erwähnten Ausschuss für das Nachhaltigkeitskapitel überwacht. Im Freihandelsabkommen steht dazu: „Die Vertragsparteien bemühen sich nach besten Kräften, die Ratschläge oder Empfehlungen der Sachverständigengruppe zur Durchführung des Kapitels zu berücksichtigen.“

Die EU hatte bereits im Juli 2019 das Schlichtungsverfahren eingeleitet, doch die Arbeit der Sachverständigengruppe wurde durch die Pandemie 2020 erheblich erschwert. Anhörungen mussten digital erfolgen und zogen sich über Monate hin, weshalb der Abschlussbericht erst im Januar 2021 vorgelegt werden konnte.

Südkorea hatte zunächst versucht, das Verfahren anzufechten, da die EU keine expliziten handelsbezogenen Vorwürfe vorgebracht habe. Doch die Sachverständigengruppe verwarf diese Einwände. Durch seine Mitgliedschaft in der ILO hat sich Südkorea zur Umsetzung der ILO-Kernarbeitsnormen verpflichtet. Die dort verankerten Grundrechte gelten unabhängig von Handelsfragen, somit muss auch bei einer Beschwerde über das Nachhaltigkeitskapitel kein expliziter Handelsbezug vorliegen.

Die Sachverständigengruppe erklärte schließlich die Novelle des koreanischen Arbeits- und Gewerkschaftsrechts für unvereinbar mit dem Nachhaltigkeitskapitel im Freihandelsabkommen und forderte Südkorea dringend zur Ratifizierung der fehlenden ILO-Abkommen auf. Der Vertragspartner hatte erst ab 2018 überhaupt ernsthafte Maßnahmen zur baldigen Unterzeichnung entsprechender Abkommen begonnen und konnte bis dato kaum Fortschritte vorweisen.

Zahnloser Tiger

Da das EU-Korea Schlichtungsverfahren, anders als ein nach den Regeln der Welthandelsorganisation durchgeführtes Streitbeilegungsverfahren, keine Sanktionen oder andere Maßnahmen vorsieht, gleicht das Ganze allerdings eher einem zahnlosen Tiger. Die EU hat mit dem Verfahren zwar ein klares Zeichen gesetzt, dass Südkorea sich nicht um die Ratifizierung der ILO-Abkommen bemüht. Doch wenn Südkorea in den kommenden Jahren keine größeren Fortschritte vorzeigen kann, besteht trotzdem kaum eine Möglichkeit, den Druck zu erhöhen. Damit wiederholt die EU den Fehler, den die OECD bereits 1995 im Vorfeld des Beitritt Südkoreas begangen hatte: sich auf leere Zusagen einer Regierung zu verlassen, die Wirtschafts- und Exportinteressen vor die Rechte von Beschäftigten stellt. [Link: https://old.tuac.org/publicat/korpub95.pdf]

Aus Sicht der Gewerkschaften ist der Bericht der Sachverständigengruppe jedenfalls nicht ausreichend. Da das Schlichtungsverfahren keine Konsequenzen vorsieht, wenn die Berichtergebnisse nicht umgesetzt werden, kommt Südkorea zunächst mit einer Rüge davon. Dabei prangern internationale Gewerkschafter*innen seit Jahren die zunehmend unhaltbaren Zustände in Südkorea an: Im Dezember 2013 hatte es - nach offiziell genehmigten Streiks - Razzien und Verhaftungen von Angehörigen der Eisenbahnergewerkschaft gegeben. Der Elektronikhersteller Samsung steht seit Jahren wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Politik in der Kritik; Beschäftigte seien „andauernder Überwachung, Einschüchterung, Entlassungen und sozialer Schikane“ ausgesetzt. Zuletzt starben Paketzusteller*innen an Arbeitsüberlastung aufgrund steigender Bestellzahlen während der Pandemie. 

Die europäischen Gewerkschaften werden die Entwicklungen in den kommenden Jahren daher sehr aufmerksam verfolgen und mit Hilfe des Europäischen Parlaments politischen Druck auf die EU-Kommission ausüben, falls diese keine weiteren Schritte zur Einhaltung des Nachhaltigkeitskapitels unternimmt. Das Abkommen mit Südkorea zeigt, dass die Handelsabkommen der „neuen Generation“ noch stark reformbedürftig sind und die Umsetzung von Nachhaltigkeitskapiteln ohne geeigneten Streitbeilegungsmechanismus im Rahmen eines Schiedsgerichtes mit entsprechenden Sanktionen nicht sichergestellt werden kann. Die EU-Kommission hingegen verzeichnet das Ergebnis des Schlichtungsverfahrens als Erfolg und möchte das Nachhaltigkeitskapitel als Vorbild für weitere Abkommen verwenden - doch ein Musterbeispiel ist das Freihandelsabkommen mit Südkorea ganz bestimmt nicht.


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