Deutscher Gewerkschaftsbund

27.09.2022
Arbeits- und Personalsituation an Schulen

Zuspitzung hin zum Notstand?

Das Problem fehlender Lehrkräfte und schulischen Personals beschäftigt uns seit Jahren. Und obwohl wir das Thema immer wieder in den Mittelpunkt stellen, es dadurch Aufmerksamkeit erfährt, an mancher Stelle Verbesserungen erreicht worden sind, gibt es nach wie vor ein großes Problem: Es fehlt Personal an unseren Schulen! Eine Herausforderung, die sich nicht von selbst lösen wird. Die Lehrkräfte sind sehr engagiert, die Lücken zu schließen – und bezahlen dies mit ihrer Gesundheit.

Lehrerin, die ihren Kopf stützt und erschöpft aussieht

DGB / wavebreakmedia

„Wie gehabt – nur schlimmer“: Mit dieser Überschrift titelte die GEW Sachsen ihre Pressemitteilung zum Schuljahresbeginn. Trotz deutlich steigender Schülerzahlen gelinge es nicht einmal, die altersbedingt ausscheidenden Lehrkräfte zu ersetzen. Derzeit fehle jede zehnte Lehrkraft an öffentlichen Schulen, teilte die GEW im Freistaat mit. In Sachsen-Anhalt musste das Bildungsministerium bereits Ende 2021 eine Unterrichtsversorgung von lediglich 92 Prozent einräumen. Jetzt dürfte es noch schlechter aussehen.

In der Hauptstadt hatte nach Angaben der GEW Berlin 2022 nur noch ein knappes Drittel der neu eingestellten Lehrkräfte eine abgeschlossene Lehramtsausbildung. Rund zehn Prozent werden im Quereinstieg berufsbegleitend nachqualifiziert. Über die Hälfte der Neubeschäftigten hat keine oder keine vollständige Lehramtsausbildung und arbeitet überwiegend befristet. Etwa 600 Vollzeitstellen waren zum Schuljahresbeginn gänzlich unbesetzt. Die Kehrtwende des Berliner Senats, ab diesem Jahr Lehrkräfte erstmals wieder zu verbeamten, hat offenbar nicht zu einem Run der Lehramtsabsolventen auf die Hauptstadt geführt.

Valide Zahlen zum Lehrkräftemangel zu bekommen, ist schwierig. Eine vorsichtige Zusammenfassung der nur lückenhaft vorliegenden Daten deutet auf 20.000 bis 25.000 Stellen hin, die nicht mit Laufbahnbewerbern (mit zweitem Staatsexamen) besetzt werden konnten. Die Vernebelungstaktik der Kultus- und Bildungsministerien hat System.

KEINE KLAREN ZAHLEN
Zwischen „Es steht niemand vor der Klasse“ und „Wir stellen nur voll ausgebildete Lehrkräfte mit dem richtigen zweiten Staatsexamen ein“ existiert eine große Grauzone. Manche Zahlen eignen sich dennoch als Indikator für Lehrkräftemangel: Wie hoch ist die Zahl der Seiteneinsteiger:innen in den Schuldienst? Wie viele Planstellen konnten nicht mit Laufbahnbewerbern besetzt werden? Doch diese verwaltungsinternen Zahlen sind kaum zu bekommen und werden erst mit langer zeitlicher Verzögerung veröffentlicht. Immerhin publiziert die Kultusministerkonferenz (KMK) seit 2011 die Zahl der „durch Seiteneinsteiger:innen besetzten Stellen“, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung von neun Monaten. 2013 lag deren Zahl bundesweit bei knapp 700, 2018 bei 4.500, im vergangenen Jahr waren es gut 3.000. Allerdings werden auch hier nur unbefristete Einstellungen auf Planstellen gezählt. Die Mehrzahl der nicht voll ausgebildeten Neueingestellten arbeitet hingegen befristet und bekommt keine Qualifizierung.

Populisten führen die verschärfte Lage gerne auch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die vielen geflüchteten Schüler:innen zurück. Richtig ist zwar, dass – Stand Anfang September – 170.000 zusätzliche Kinder und Jugendliche bei der aktuellen Betreuungsrelation etwa 12.500 zusätzliche Lehrerstellen erfordern, bei kleineren „Willkommensklassen“ auch noch mehr. Wer aber so tut, als wäre ohne diese unerwartete neue Herausforderung alles prima, der wirft Nebelkerzen. Insbesondere im Süden und Westen der Republik beobachtet die GEW, dass es an Gymnasien mehr Bewerber:innen als Stellen gibt, während an anderen Schulformen Stellen nicht besetzt werden können. Deshalb ist die GEW-Forderung nach A13/E13 für alle Lehrämter unverändert richtig und wichtig. Acht Bundesländer im Norden und Osten haben diese Forderung der GEW inzwischen umgesetzt. In Sachsen-Anhalt und Niedersachsen sind die Bildungsministerien dafür, aber die Finanzministerien blockieren. Die GEW begrüßt es sehr, dass sich mit Nordrhein-Westfalen (NRW) nun das größte Bundesland zu diesem Ziel bekennt, und hofft auf eine zügige Umsetzung der Landesregierung.

AKTUELLE ARBEITSBEDINGUNGEN NICHT ATTRAKTIV
Doch Geld allein macht nicht glücklich. Die aktuellen Arbeitsbedingungen an Schulen sind für viele junge Menschen nicht attraktiv genug. Das heißt vor allem: weniger Pflichtstunden und kleinere Klassen müssen her. Aber auch verrottende Schulgebäude und fehlende (digitale wie analoge) Ausstattung drücken eine mangelnde Wertschätzung der Arbeit an Schulen aus. Die Politik sagt, dass sie die Unterrichtsdeputate nicht senken könne, weil es zu wenige Lehrkräfte gebe – umgekehrt wird ein Schuh daraus: Mit abschreckenden Arbeitsbedingungen kann man nicht locken!

Die GEW hatte schon 2010 ein „Sofortprogramm Lehrernachwuchs“ vorgeschlagen. Hätte die Politik damals gehandelt, stünden die Länder jetzt besser da, denn neue Lehrkräfte auszubilden, dauert rund sieben Jahre. Deshalb müssten die Länder kontinuierlich eine große Anzahl Lehrkräfte ausbilden, um aus den Zyklen von Lehrkräftemangel und -überhang auszubrechen. Dazu muss als erstes der Numerus Clausus für das Lehramtsstudium fallen. Parallel müssen die Hochschulen ihre Studienplätze hochfahren, die Länder die Plätze im Vorbereitungsdienst. Zudem muss die Begleitung der jungen Menschen in Studium und Referendariat besser werden, denn die hohen Abbruchquoten sind erschreckend.

QUALIFIZIERUNG AUSBAUEN UND VORANBRINGEN
Kurzfristig gibt es keine Alternative zum Quer- und Seiteneinstieg. Alle, die dazu bereit sind, sollten wohlwollend aufgenommen werden. Diese Menschen bringen sehr unterschiedlicheVoraussetzungen mit. Daher wäre eine persönliche Bestandsaufnahme und darauf aufbauend ein individuelles Fortbildungsangebot der Idealzustand. Das ist allerdings sehr ambitioniert, zumal auch die Lehrerseminare und die Lehramtsfakultäten an den Hochschulen unter Fachkräftemangel und knappen Finanzen leiden.

Die GEW schlägt daher vor, dass Länder, Hochschulen, Lehrkräfteseminare sowie Personalvertretungen und Gewerkschaften gemeinsam vorgehen, um den Kraftakt der Qualifizierung tausender Quer- und Seiteneinsteiger:innen voranzubringen. Die Qualifizierung ist aus Sicht der GEW besonders wichtig. Ziel ist, dass die Maßnahmen dazu führen, dass diese Gruppe voll anerkannt wird und damit alle Perspektiven und Beförderungsmöglichkeiten erhält. Nur so kann verhindert werden, dass große Gruppen von Beschäftigten in Schulen mit sehr unterschiedlichen Konditionen die gleiche Arbeit machen. Gleichzeitig müssen Arbeit und Personal an Schulen neu gedacht werden. Lehrkräfte sind keine Verwaltungsbeamte und auch keine IT-Fachkräfte. Die Schulen brauchen mehr Fachkräfte, die diese nicht-pädagogischen Arbeiten übernehmen. Zudem müssen viel mehr multiprofessionelle Teams gebildet werden, in denen Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen und -pädagogen sowie Erzieher:innen zusammenarbeiten.

TEUFELSKREIS DURCHBRECHEN
In der politischen Diskussion entdecken neuerdings manche die Teilzeitbeschäftigten als „Reserve“, um die Lehrkräftelücke zu schließen. Doch eine zwangsweise Arbeitszeitausweitung würde das Problem nur verschlimmern. Laut Deutschem Schulbarometer, einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung, sind im dritten Corona-Schuljahr viele Lehrkräfte am Ende ihrer Kräfte: So erleben rund 92 Prozent der Befragten ihr Kollegium stark oder sehr stark belastet, 84 Prozent sagen dies auch für sich selbst. Oft ist Wochenendarbeit die Regel (79 Prozent) und eine Erholung in der Freizeit kaum noch möglich (60 Prozent). Die Hälfte leidet unter körperlicher (62 Prozent) oder mentaler Erschöpfung (46 Prozent). Mehr als jede zehnte Lehrkraft (13 Prozent) plant, im kommenden Schuljahr weniger zu arbeiten und das wöchentliche Deputat zu reduzieren. Teilzeitarbeit ist für viele Lehrkräfte die persönliche Flucht aus der Überlastung. Das System steckt in einem Teufelskreis aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung. Da kommen wir nur raus, wenn die Politik bereit ist, insgesamt mehr Ressourcen ins System zu stecken – auch durch mehr Schulsozialarbeit, schulpsychologische Betreuung und weiteres zusätzliches Personal etwa in der Verwaltung.

Zur Autorin des Beitrags: Anja Bensinger Stolze, war von 2013 bis zum Mai 2021 Vorsitzende der GEW Hamburg. Seit Juni 2021 ist sie Mitglied des Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und hier verantwortlich für den Organisationsbereich Schule.


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