Deutscher Gewerkschaftsbund

23.10.2004
NOZ-Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer

Beschäftigte müssen für Managementfehler bezahlen

„Wir  brauchen eine Werte-Diskussion in unserer Gesellschaft, die auch Unternehmen in die Pflicht nimmt“, sagt der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Er kritisiert die Kostensenkungen zu Lasten der Beschäftigten, die zentrale Ursache der Beschäftigungskrise sei die Zurückhaltung bei Investitionen und Konsum. Im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) fordert Sommer eine nachhaltig ausgerichtete Unternehmenspolitik.

NOZ: Herr Sommer, nicht nur in der Industrie, sondern auch im Dienstleistungsgewerbe bis hin zu Krankenhäusern werden Kostensenkungen zu Lasten der Beschäftigten durchgesetzt. Haben die deutschen Arbeitnehmer den globalen Wettbewerb bereits verloren?

Michael Sommer:  Wir haben eine der schwersten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der Bundesrepublik hinter uns. Und wenn ich auf die Entwicklung der Inlandsnachfrage sehe, dann dauert sie noch an. Die schwache bis negative Entwicklung bei Investitionen und Konsum ist die zentrale Ursache unserer Beschäftigungskrise. Den globalen Wettbewerb gewinnt der Exportweltmeister Deutschland schon seit vielen Jahren, unsere Lohnstückkosten entwickeln sich international unterdurchschnittlich. Aber dennoch üben manche Konzerne enormen Druck auf die Beschäftigten aus - bei Opel sollen die Beschäftigten für eklatante Managementfehler in der Produktpolitik bezahlen. Es ist schon bitter, die Beschäftigten haben dafür gekämpft, dass Opel mit einer Neuauflage des Omega wieder in der ersten Liga der Autobauer mitspielt und in Detroit legen sie ein blindwütiges Sparprogramm auf. Wo bleiben die Investitionen in die Zukunft? Das macht die Sache so ungeheuer ungerecht.

NOZ: Die bekannte Boston Consulting Group rechnet aber vor, dass im kommenden Jahrzehnt mindestens ein bis zwei Millionen weitere deutsche Arbeitsplätze in Niedriglohnländer abwandern werden…

Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Unternehmen auch im Ausland investieren. Ein Beispiel: die deutsche Automobilindustrie. Trotz Verlagerung beschäftigt die Branche heute deutlich mehr Menschen in Deutschland als vor zehn Jahren. Und mit einer hohen Exportquote ist der Automobilbau ungeheuer erfolgreich. Warum? Weil wir innovative Autos bauen, hervorragende Produkte anzubieten haben. Gewerkschaften können und wollen den Strukturwandel nicht verhindern - aber wir erheben für die Arbeitnehmer den Anspruch, den Wandel zu gestalten. Wenn das zusammen mit der aktiven Bereitschaft der Unternehmen zu Innovation und Investitionen auch am Standort Deutschland gelingt, ist die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen eine Win-Win-Situation, für Unternehmen und Arbeitnehmer. Wer heute wegen billigerer Löhne nach Polen oder Tschechien geht, sollte im Übrigen einkalkulieren, dass sich das Lohnniveau auch in diesen Ländern zu Gunsten der Beschäftigten ändern wird.

NOZ: Wollen Sie bestreiten, dass trotz hoher Exporte immer mehr Produktionen und Dienstleistungen in Deutschland zu teuer sind, wie fast alle Experten und nicht nur Wirtschaftvertreter beklagen?

Die deutsche Wirtschaftswissenschaft bewegt sich international leider nicht auf Spitzenniveau. Ein Vergleich der Stundenlöhne ergibt doch keinen Sinn. Ich sehe das immer  im Kontext mit der Leistung der Beschäftigten, also der Produktivität. Die Lohnstückkosten sind in Deutschland in zehn Jahren um 3,5 Prozent gestiegen, in Frankreich um über zehn und in Großbritannien um über zwanzig Prozent. Ich räume ein, die Osterweiterung der EU stellt uns vor neue Herausforderungen, wir haben es mit Lohnkonkurrenz zu tun, aber das wird sich über die Zeit ändern.

NOZ: In diesem Zusammenhang verlangen immer mehr Politiker und Gewerkschafter, dass deutsche Unternehmen mehr Verantwortung für den Standort „D“ zeigen müssten. Was heißt das konkret - sollen sie lieber Verluste in Deutschland statt Gewinne in Tschechien machen?

Der Vergleich hinkt, denn ein Blick in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zeigt, dass sich auch in Deutschland gute Geschäfte machen lassen. Aber ich denke, wir  brauchen eine Werte-Diskussion in unserer Gesellschaft, die auch Unternehmen in die Pflicht nimmt. Wenn nur noch der kurzfristige Profit zählt, konkurrieren sich Unternehmen zu Tode. Wir brauchen eine nachhaltig ausgerichtete Unternehmenspolitik. Und dazu gehört auch Respekt vor Beschäftigten und der Gesellschaft. Schließlich ist das Kapital, das Unternehmen heute einsetzen, von den Beschäftigten erarbeitet worden und konnte nur erzielt werden, weil die Steuerzahler bis heute eine hervorragende Infrastruktur zur Verfügung stellen, Schulen, Hochschulen, Verkehrswege, eine gute Gerichtsbarkeit...

NOZ: Bei zahlreichen Verhandlungen um Kostensenkungen im Personalbereich - und das nicht nur bei Opel, VW, Siemens oder Karstadt/Quelle - sitzen die Gewerkschaften mit am Tisch. Fürchten sie nicht, dass die Gewerkschaften in den Augen ihrer Mitglieder zunehmend als Partner des Sozialabbaus angesehen werden?

Es ist furchtbar, dass Tausende Beschäftigte für vier Jahre Wirtschaftskrise bezahlen sollen, die sie nicht zu verantworten haben. Dies wenigstens so zu gestalten, dass sie dabei nicht auch noch übers Ohr gehauen werden und Unternehmen zumindest Investitionen in die Zukunft zusagen ist leider in vielen Fällen unsere Aufgabe. Ohne die von den Gewerkschaften ausgehandelten soliden Tarifverträge, die von den Unternehmen nicht einfach mir-nichts-dir-nichts gekündigt werden können, würde diese Gefahr ernsthaft bestehen. So können wir sicherstellen, dass die Unternehmen im Gegenzug in die Zukunft  von Standorten investieren.

Wenn Gewerkschaften vorwiegend noch den Abbau von Arbeitsplätzen, Entgelten und Sozialleistungen sozial flankieren, sind sie nicht mehr besonders attraktiv. Wie wollen Sie angesichts dieser Situation die Talfahrt bei den Mitgliederzahlen beenden?

Ich glaube, dass meine Kollegen in den Betrieben auch oder paradoxerweise gerade in schwierigen Zeiten auch beweisen können, wie wichtig starke Betriebsräte und Gewerkschaften für Arbeitnehmer sind. Ich will nur daran erinnern, dass Belegschaften ohne Betriebsrat bei Entlassungswellen keinen Sozialplan verhandeln können. Aber es bereitet natürlich keine Freude, diese auszuhandeln. Das macht deutlich: In diesem Land müssen die Weichen endlich so gestellt werden, dass es wieder aufwärts geht. Je länger Politik und Zentralbank der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise zusehen, umso tiefer werden auch die gesellschaftlichen Verwerfungen. Das kann niemand wollen.

Der Zuwanderungsrat, indem der DGB einen Vertreter hat, verlangt eine Quote von 25.000 ausländischen Arbeitnehmern, die 2005 bei uns Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten sollen, um Engpässe am Arbeitsmarkt zu beseitigen.  Unterstützen Sie diesen Vorschlag?

Keine Frage, wir brauchen Zuwanderung. Natürlich muss man das mit Blick auf den tatsächlichen Arbeitskräftebedarf steuern. Aber wir haben trotz Massenarbeitslosigkeit auch die Aufgabe, die besten Köpfe der Welt für unser Land und Europa zu begeistern. Und gleichzeitig, das betone ich, muss unser Land, muss Europa für Verfolgte ein sicherer Hafen sein. Wir können die Probleme der Welt nicht lösen. Aber wer wirklich Schutz braucht, muss ihn auch bekommen.

Wie bewerten Sie die Verhandlungen über eine Aufnahme der Türkei in die EU?

Ich persönlich plädiere im Grundsatz für die Aufnahme der Türkei, das Land macht große Fortschritte hin zu einer offenen Gesellschaft und zu einer starken Ökonomie. Das ist aber nicht immer so klar erkennbar. Es gibt auch irritierende Signale, insbesondere der Rechtsstaat muss sich noch weiter entwickeln. Voraussetzung für eine europäische Integration ist das klare Bekenntnis der Türkei zu europäischen Werten. Wir müssen sehen, ob das dann auch hält. Das ist aus meiner Sicht die entscheidende Voraussetzung für die Aufnahme des Landes in die EU.

Interview: Axel Brower-Rabinowitsch

Neue Osnabrücker Zeitung, 23. Oktober 2004


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