Deutscher Gewerkschaftsbund

06.12.2011
Interview

Anbuhl: "Soziale Öffnung ist Kernaufgabe"

Das Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ in der Diskussion

Immer mehr Hochschulen werden derzeit unter einem unternehmerischen Leitbild umgebaut. DGB-Bildungsexperte Matthias Anbuhl erklärt, wie dieses Konzept entstanden ist und was die Gewerkschaften dem mit ihrem Leitbild "Demokratische und soziakle Hochschule" entgegen setzen wollen.

Porträt Matthias Anbuhl

Bildungsexperte Matthias Anbuhl leitet die Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand. Foto: DGB

Die deutschen Hochschulen erleben zurzeit einen historischen Umbruch. Dominierendes Leitbild ist dabei ein wirtschaftsnahes Verständnis einer „deregulierten“, „entfesselten“ oder „unternehmerischen“ Hochschule. Wie ist dieses Konzept entstanden?

Matthias Anbuhl: Vor zehn Jahren erschien das Buch „Die entfesselte Hochschule“ von Detlef Müller-Böling, dem damaligen Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh, das von der Bertelsmann-Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz gegründet wurde. Diese Schrift ist eine Handlungsanleitung für den Umbau der Hochschulen zur unternehmerischen Hochschule.

Welche Inhalte stehen hinter diesem Konzept?

In der unternehmerischen Hochschule soll nach den Gesetzen des Wettbewerbs und der Konkurrenz auf dem Wissenschafts- und Ausbildungsmarkt agiert werden. Die Qualität einer Hochschule bestimmt sich nicht mehr durch ihre wissenschaftliche Anerkennung und Leistung, sondern zum Beispiel durch das erfolgreiche Einwerben von Studiengebühren in der Lehre oder Drittmitteln in der Forschung. Forschende und Lehrende werden zu kleinen Ich-AGs, die leistungsabhängig bezahlt werden. Studierende sollen den Status von Kunden erhalten, die sich Bildung als Dienstleistung kaufen.

Was ist daran so schlimm, wenn Hochschulen ihre Ergebnisse vermarkten und Drittmittel von privaten Firmen einwerben?

Letztlich bestimmt so die kaufkräftige Nachfrage die Wissenschaft, nicht der gesellschaftliche Bedarf oder Nutzen. Im Gesundheitswesen bedeutet dies, dass die Pharmaindustrie enormen Einfluss auf die Forschung hat. Da wird weiter an Insulinpräparaten für Diabetiker gearbeitet, statt an neuen Methoden der Prävention - beispielsweise an Fragen der gesunden Ernährung und Bewegung. Am Ende stellt sich die Frage: Wem ist das Wissenschaftssystem verpflichtet: Der Gesundheit der Menschen oder den Profitinteressen der Pharmaindustrie? Der Gesellschaft, die die Grundhaushalte der Hochschulen finanziert oder der Wirtschaft, die ihre Forschungsergebnisse vermarktet?

Aber für die Beschäftigten müsste das Konzept der unternehmerischen Hochschule doch attraktiv sein, immerhin verspricht es mehr Freiheit…

Nein, die große Mehrheit der Forschenden, Studierenden und Lehren dürfte mit der unternehmerischen Hochschule sogar unfreier geworden sein. Unter dem Vorwand klare, handlungsfähige und starke Leitungsstrukturen zu schaffen, wurden die Gremien der Mitbestimmung an den Hochschulen vielfach entmachtet. Sie haben allenfalls noch beratende Funktion. Der Präsident hingegen wurde vielerorts zu einem kleinen Chief Executive Officer gegen dessen Stimme nichts geht.

Wenn die Defizite so gravierend sind, warum haben sich so viele Hochschulen und Bundesländer für das Konzept der unternehmerischen Hochschule entschieden?

Das hängt entscheidend mit der chronischen Unterfinanzierung zusammen. Viele Hochschulen mussten erleben, dass bei steigenden Anforderungen ihre Haushalte mehr und mehr gekürzt wurden. Gleichzeitig haben die Länder viele Hochschulstandorte grundsätzlich in Frage gestellt. Da war und ist es für viele Hochschulen verlockend, die eigene Existenz zu retten, in dem sie sich das Geld aus der Wirtschaft holen. Auch für die Leitungen ist das Modell der unternehmerischen Hochschule attraktiv, erhalten sie doch deutlich mehr Macht.

Die Gewerkschaften stellen der unternehmerischen Hochschule ihr Leitbild einer demokratischen und sozialen Hochschule entgegen. Hat dieses Konzept angesichts der klammen Kassen überhaupt eine Chance?

Der Staat muss mehr in die Hochschulen investieren. Dazu braucht er mehr Einnahmen – durch Steuern auf Erbschaften, Vermögen und Finanztransaktionen. Zudem muss der Bund wieder mehr Verantwortung in der Hochschulfinanzierung übernehmen dürfen: Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau muss erhalten bleiben und der Bund muss sich auch dauerhaft an der Grundfinanzierung der Hochschulen beteiligen.

Was wollen die Gewerkschaften an den Strukturen der Hochschulen ändern?

Wir müssen die Demokratiefrage an den Hochschulen neu stellen. Innovationen entstehen nicht durch hierarchische Leitungen, sondern durch Mitbestimmung und Partizipation. Deshalb müssen alle Gruppen – Professoren, Mittelbau, Verwaltung und Technik sowie Studierende – paritätisch an den Hochschulen mitbestimmen dürfen. Keine Gruppe darf gegen alle andern entscheiden können. Zudem brauchen wir neue Formen der Partizipation.

Häufig kritisiert werden die Zulassungsbeschränkungen für ein Studium. Auf Gewerkschaftsseite ist von einer „sozialen Öffnung“ der Hochschulen die Rede. Was ist damit gemeint?

Auf dem Weg zu einer offenen Hochschule müssen alle Barrieren abgebaut werden. Wir müssen Studiengebühren abschaffen und das BAföG stärken, in dem wir den Darlehensanteil senken, die Altersgrenze streichen und für einen regelmäßigen Inflationsausgleich bei den BAföG-Sätzen sorgen. Bund und Länder müssen mehr Studienplätze finanzieren und gleichzeitig in die soziale Infrastruktur -zum Beispiel Beratungsangebote, Wohnheimplätze und Mensen – investieren.

Welche Rolle spielt die einzelne Hochschule dabei?

Die Hochschulen brauchen einen Kulturwandel in der Lehre. Sie müssen sich auf Menschen mit unterschiedlichsten Biographien und Qualifikationen einstellen und ihr Angebot auf die Bedürfnisse der einzelnen Studierenden orientieren. Dazu zählen strukturierte Vorbereitungskurse und Beratung, aber auch berufsbegleitende Studiengänge. Die soziale Öffnung gehört zur Kernaufgabe jeder Hochschule, Sie muss verbindliches Kriterium in der Studiengestaltung, in Akkreditierung und Evaluation sein. Die Ergebnisse der sozialen Öffnung müssen von jeder einzelnen Hochschule veröffentlicht werden.

Sperren sich die Gewerkschaften denn ganz gegen den Wettbewerb und gegen Leistung im Hochschulsystem?

Nein. Aber die Leistung einer Hochschule zeigt sich, wenn sie vielen Studierenden unterschiedlichster Herkunft ein gutes Studium ermöglicht und sie auch zum Abschluss bringt und an der Qualität ihrer wissenschaftlichen Forschung. Nicht aber an der Summe der eingeworbenen Drittmittel.


Nach oben

Dieser Artikel gehört zum Dossier:

Das Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ in der Diskussion

Zum Dossier