Deutscher Gewerkschaftsbund

29.05.2008
Mindestlohn-Interview

Bosch: Mindestlohn bringt Milliarden für die Sozialversicherung

Gerhard Bosch ist Professor für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen und Geschäftsführender Direktor des dort angesiedelten Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ). Er war Mitglied der Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ und Mitglied der Expertenkommission des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für den fünften Altenbericht zum Thema „Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“. Gerhard Bosch ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Arbeit“ und Autor zahlreicher Artikel und mehrerer Bücher.

Gerhard Bosch

Professor Gerhard Bosch bei einer Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes. DGB

Laut einer Studie Ihres Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg Essen arbeiteten 2006 bereits rund 6,5 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz (SPD), hält es im Rahmen der Ergebnisse des aktuellen Armutsberichts für „besonders bedrückend“, dass immer mehr Menschen von Armut betroffen sind, obwohl sie arbeiten? Wie könnte man diese Situation entschärfen?

Gerhard Bosch: Ich halte ein Paket von Maßnahmen für sinnvoll. Erstens: Es muss ein Mindestlohn eingeführt werden. Dieser ist allerdings nur eine untere Auffanglinie und kann daher nicht Tariflöhne absichern. Daher brauchen wir zweitens mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge, wie etwa in der Bauwirtschaft. Drittens: In der Leiharbeit muss Equal Pay durchgesetzt werden. Nur so wird verhindert, dass Leiharbeiter Fest-Beschäftigte ersetzen. Viertens: Minijobs müssen sozialversicherungspflichtig werden. Fünftens: Es muss auf EU-Ebene einiges getan werden. Sozialstandards dürfen nicht wie in der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dem Wettbewerbsrecht untergeordnet werden.

Sie warnten in einem Interview mit Deutschland Radio Kultur vor den verborgenen Kosten von Niedriglöhnen. 4,2 Milliarden Euro gingen dem Staat durch Niedriglöhne verloren. Kann der Staat sich Niedriglöhne überhaupt leisten?

Gerhard Bosch: Wir haben für das Jahr 2004 ausgerechnet, dass bei Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 7,50 Euro die Sozialversicherungen Mehreinnahmen in Höhe von 4,2 Milliarden Euro erzielen. Anders formuliert: Dieser Betrag geht den Sozialversicherungen heute durch die starke Lohnspreizung nach unten verloren. Heute wäre der Betrag infolge der Zunahme von Niedriglöhnen wahrscheinlich noch höher. Zusätzlich würde der Staat Geld einsparen, das er heute zur Aufstockung von Niedriglöhnen aufwendet. Das war übrigens ein Grund für die Einführung des nationalen Mindestlohns in Großbritannien. Die Subventionen von Familien, vergleichbar mit Hartz IV, stiegen durch Lohnsenkungen so stark an, so dass man die Wirtschaft wieder stärker in die Verantwortung einbeziehen wollte.

Die DGB-Kampagne für Mindestlöhne fordert „Kein Lohn unter 7,50 Euro pro Stunde“, andere halten 4,50 Euro für ausreichend. Welchen Betrag halten Sie für angemessen?

Gerhard Bosch: Bei der Festlegung eines Mindestlohns sollte man vorsichtig sein. Die britische Low Pay Commission beschreibt die Festlegung einer Lohnuntergrenze als „Reise in unbekannte Gewässer.“ Allerdings halte ich einen Mindestlohn von 4,50 Euro pro Stunde für absurd. Er delegitimiert das ganze Vorhaben. Ich empfehle einen Stufenplan, der vielleicht in Ostdeutschland bei sechs und in Westdeutschland bei sieben Euro beginnt und dann entsprechend den Erfahrungen erhöht wird. Einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde halte ich gegenwärtig in Ostdeutschland für problematisch, da dort 30 Prozent der Beschäftigten für unter 7,50 Euro pro Stunde arbeiten. In Westdeutschland kann ein Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde ohne Beschäftigungseinbußen bezahlt werden.

Welche Regelungen sollten für Jugendliche und Auszubildende bezüglich eines Mindestlohnes gelten?

Gerhard Bosch: Auszubildende würde ich von einer Mindestlohnregelung ausnehmen. Da sollten die tariflichen Ausbildungsvergütungen gelten. Für Jüngere sollte man geringere Mindestlöhne festlegen, allerdings sollte man da nicht so weit gehen wie in den Niederlanden. Dort sinkt der Mindestlohn der Jüngeren bis auf ein Drittel des Erwachsenlohnes. Sie finden daher in bestimmten Tätigkeiten, etwa im Lebensmitteleinzelhandel, fast nur noch Jüngere. In Frankreich dagegen liegt er hingegen bei 80 bis 90 Prozent des Mindestlohns und ist somit zu hoch eingestuft. Ein Mindestlohn für Jugendliche, die einer Hilfstätigkeit nachgehen, sollte nicht zu hoch angesetzt sein, da sonst die Anreize für eine Ausbildung fehlen.

Wie hängt Niedriglohnbeschäftigung und mangelnde Tarifbindung zusammen?

Gerhard Bosch: Die Tarifbindung hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Während 1990 noch 80 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt wurden, ist die Quote bis 2004 auf nur noch 68 Prozent in Westdeutschland und 53 Prozent in Ostdeutschland gesunken. Viel wichtiger ist aber, dass sich die nicht tarifgebundenen Unternehmen an den Tarifverträgen ihrer Branche orientierten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Deshalb ist der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren stark angestiegen. Leider schützen Tarife nicht immer vor Niedriglöhnen. Ein Mindestlohn greift natürlich in Tarife ein. Das ist auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich der Fall. Dies ist aber notwendig, da die Gewerkschaften in manchen Branchen zu schwach sind, um angemessene Löhne für die unteren Lohngruppen durchzusetzen.

Kritiker des Mindestlohns warnen vor dem Abbau von Arbeitsplätzen. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass Niedriglohn-Jobs ins Ausland verlagert werden? Könnte man nicht vielmehr behaupten, dass Mindestlöhne die Binnenwirtschaft stärken?

Gerhard Bosch: Früher gab es die einhellige Meinung, dass sich Mindestlöhne negativ auf die Beschäftigung auswirken. Die neuere Forschung vor allem in den USA und Großbritannien hat gezeigt, dass Mindestlöhne in vielen Fällen der Beschäftigung nicht geschadet haben. Das hat dort auch die Meinung vieler Ökonomen verändert. Diese Untersuchungen werden in Deutschland vielfach nicht zur Kenntnis genommen oder als Einzelfälle heruntergespielt. Dabei wissen wir jetzt, dass es Gestaltungsspielräume gibt. In dieser Zone zwischen einem niedrigen Lohn, der keine Auswirkungen auf die Einkommensverteilung hat, und einem zu hohen der Beschäftigung gefährdet, kann man handeln. Mindestlöhne haben allerdings nur einen minimalen positiven Effekt auf die Binnenwirtschaft durch Erhöhung der Konsumnachfrage. Sie sorgen vor allem für eine Umverteilung zu Gunsten der Geringverdiener.

Der europäische Vergleich legt nahe, dass Mindestlöhne keinen Arbeitsplatzabbau nach sich ziehen. Sind die Erfahrungen unserer Nachbarländer auf Deutschland übertragbar?

Gerhard Bosch: Viele Erfahrungen unserer Nachbarländer sind übertragbar. So kann man beispielsweise sagen, dass sich Mindestlöhne und Tarifverträge nicht ausschließen. Belgien, Frankreich, die skandinavischen Länder und auch Südeuropa zeigen uns, dass man Mindestlöhne mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen kombinieren kann.

Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Laurenz Meyer, sagt dem Rheinischen Merkur: "Der Mindestlohn, der eigentlich deutsche Arbeitnehmer vor Dumping-Angeboten aus dem europäischen Ausland schützen soll, wird von den Branchenriesen missbraucht, um missliebige kleinere Wettbewerber aus dem Markt zu drängen". Ist dieser Einwand Ihrer Meinung nach gerechtfertigt?

Gerhard Bosch: Betrachtet man den Post-Mindestlohn, ging es eher um Konflikte zwischen mehreren starken Unternehmen, der deutschen und niederländischen Post und Springer .An dieser Stelle sollte man sich fragen, wollen wir in Deutschland Geschäftsmodelle ermutigen, die statt Innovation und Service, Lohndumping vorsehen? In vielen anderen EU-Staaten wurden bei der Privatisierung staatlicher Unternehmen die in den Tarifverträgen festgelegten sozialen Grundlagen für allgemeinverbindlich erklärt. Sie galten dann auch für die private Konkurrenz. Es geht also um die Grundfrage: Konkurriert man durch Druck auf die Beschäftigten oder im Rahmen des Sozialstaates?


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