Deutscher Gewerkschaftsbund

19.03.2019

Die europäische Hydra: Lohn- und Sozialdumping – Wettbewerbsrecht als Ausweg

Der Kampf gegen grenzüberschreitenden Sozialbetrug kann am besten mit dem Ringen gegen das mythische Monster Hydra beschrieben werden – die vielköpfige Wasserschlange der griechischen Sagen. Dieser Konflikt ist ungleich, weil jedes Mal zwei neue Köpfe wachsen, wenn einer abgehackt wird. Gelingt es den Gewerkschaften, einen Fall der Unterentlohnung aufzudecken, sind gleich wieder zwei neue da. Das europäische Wettbewerbsrecht könnte ein geeignetes Schwert gegen die Hydra sein.

Frau hält Geldbeutel mit einer Münze in der Hand

DGB/Yulia Grogoryeva/123rf.com

Während bis in die 1990er-Jahre vornehmlich Unternehmen untereinander im Wettbewerb standen, sind mit zunehmender Divergenz der Wirtschafts- und vor allem Lohnentwicklung in den EU-Ländern die Mitgliedstaaten selbst in den Wettbewerb miteinander eingetreten. Dies ist umso gefährlicher, da die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit im Binnenmarkt durch mangelnde EU-Rechtsharmonisierung, fehlende Mindeststandards sowie schlechte Transportabilität der erworbenen Rechte beschränkt ist. Gleichzeitig fallen auf nationaler Ebene die geschützten Räume weg, weil Schutzgesetze für Beschäftigte als Behinderung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten eingestuft werden.

Divergenz statt Konvergenz

Die Spreizung der Mindestlöhne in Europa mit 1,57 Euro pro Stunde in Bulgarien und 11,55 Euro pro Stunde in Luxemburg ist eine Ursache für das Auseinanderdriften. Selbst dabei müssen die Arbeitskräfte noch Abstriche machen: Durch kreative Geschäftsmodelle wie Briefkastenfirmen, Schein-Selbständigkeit und Schein-Entsendung werden sie oft unter diesen Mindestlöhnen bezahlt. EU-weit werden jedes Jahr rund 2,3 Millionen ArbeitnehmerInnen grenzüberschreitend entsendet. Tatsächlich sind es laut Schätzungen der Europäischen Föderation der Baugewerkschaften mindestens drei Mal so viele.

Der (Un)geist der Gesetze

Wie sich die Unternehmen bei den Steuern „an den Geist der Gesetze halten“ und ihren Gewinn in Niedrigsteuerländer verschieben, so ist auch bei den Beschäftigungsmodellen oft vieles legal:  Denn zumeist beruhen die juristischen Konstruktionen auf den nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten. So ist in Slowenien vorgesehen, dass bei Entsendung der Sozialversicherungsbeitrag vom nationalen Mindestlohn und nicht vom tatsächlichen Lohn im Bestimmungsland berechnet wird. Die Reaktion von Unternehmen auf dieses Angebot ließ nicht auf sich warten: Es gibt vermehrt Fälle, in denen bosnische ArbeitnehmerInnen einen Tag lang in Slowenien beschäftigt werden, um sie dann weiter nach Deutschland zu entsenden. Das Ergebnis derartiger Regelungen ist klar – entsandte Arbeitskräfte aus solchen Mitgliedsstaaten sind „billiger“ als Arbeitskräfte aus Mitgliedstaaten mit einem solidarischen System der Sozialversicherungsbeiträge.

Kampf gegen die Hydra

Die EU-Binnenmarktpolitik konzentriert sich nach wie vor auf Deregulierung, Flexibilisierung, den Abbau wirksamer Kontrollen und die Rücknahme von Präventionsmaßnahmen. Gewerkschaften und Tarifverträge werden als „administrative Barrieren“ und „protektionistische Instrumente“ angesehen.

Ähnlich wie Herkules wollen die Gewerkschaften aber nicht mehr hinnehmen, dass die Symptome des grenzüberschreitenden Sozialbetrugs, also die Köpfe der Hydra, mit nachträglichen Kontrollen bekämpft werden, sondern die Ursachen, also die Hydra selbst, beseitigen. Dies führt zu der grundsätzlichen Frage, was die Ursache für grenzüberschreitenden Sozialbetrug und -missbrauch ist. „Schnell und einfach viel Geld verdienen“, ist die einfache Antwort. Und weil beispielsweise im Bausektor rund 50% des Umsatzes durch Personalkosten bestimmt werden, lässt sich leicht feststellen, wer den Preis für grenzüberschreitenden Sozialbetrug und -missbrauch bezahlt: die Beschäftigten.

Wieso ist das möglich? Weil der europäische Sozialrahmen Stückwerk ist, das Ergebnis von Kompromissen auf kleinstem gemeinsamem Nenner. Während die wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten mit dem wirksamen Schwert des Wettbewerbsrechts ausgerüstet sind, das effizient und schnell dort eingreift, wo grenzüberschreitend Missbrauch marktbeherrschender Stellung, wettbewerbsbeschränkende Kartelle oder Subventionen festgestellt werden, fehlen solche Instrumente bei der Bekämpfung von grenzüberschreitendem Sozial- und Lohndumping.

Vorschläge der EU-Kommission können zur Lösung der Probleme beitragen, wie beispielsweise die Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde. Sie muss aber mit Kompetenzen zur effizienten grenzüberschreitenden Verfolgung von Lohn- und Sozialdumping ausgestattet werden. Eine schlagkräftige Europäische Arbeitsbehörde ist das logische Pendant zur europäischen Wettbewerbsbehörde. Ergänzend müsste eine „Europäische Socialpol“ nach dem Vorbild der Europol gebildet werden, um grenzüberschreitende Kontrolleinsätze zu koordinieren. Und schließlich bedarf es in strafrechtlich relevanten Fällen auch eines europäischen Generalanwaltes/einer europäischen Generalanwältin, der/die diese Fälle von Amts wegen verfolgt. Dies alles gibt es im Bereich der wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Warum zögern die Mitgliedstaaten, im Bereich Sozial- und Arbeitsrecht gleichzuziehen?

EU-Beihilferecht: Ein neuer Weg

Während die Mitgliedsstaaten untätig bleiben, bietet das EU-Beihilfenrecht eine gute Grundlage, um progressive Schritte zu unternehmen.

Rumänien, Bulgarien, Slowenien: Sie alle gewähren einen „Rabatt“ auf Sozialversicherungsbeiträge im Entsendefall. Dadurch genießen Unternehmen, die ArbeitnehmerInnen versenden, im Vergleich zu ihren Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil. Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs definiert jede Verringerung von Belastungen, die ein Unternehmen normalerweise selbst trägt, als Vorteil. Denn dadurch müssen einige Unternehmen bestimmte Kosten nicht tragen, die ihre Konkurrenten zu tragen haben. Der Verzicht auf die Einhebung von Sozialversicherungsbeiträgen reduziert die gewöhnlichen Kosten der unternehmerischen Tätigkeit, sie sind daher als verbotene Betriebsbeihilfe zu qualifizieren.

Die Europäische Föderation der Bau- und Holzarbeiter hat den 1. Schritt getan: Sie hat eine Beihilfenbeschwerde gegen das slowenische Modell des „Entsendebonus“ bei der Europäischen Kommission eingebracht. Dies ist eine progressive Methode, um die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu befördern, in der die Rechte der ArbeitnehmerInnen geschützt werden.

Susanne Wixforth (DGB), Werner Buelen (Europäische Föderation der Bau- und Holzarbeiter)


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