Deutscher Gewerkschaftsbund

19.03.2019

Der dreckige Alltag auf Europas Straßen und das EU-Mobilitätspaket

„1000 Euro Monatslohn, Null Tage Urlaub, zwei Jahre von der Familie getrennt – schon die nackten Zahlen sind empörend“, schreibt der Stern in einer Reportage über Lkw-Fahrer von den Philippinen, die den Wilden Westen auf Europas Straßen als entsandte LKW-Fahrer von polnischen Firmen am eigenen Leib erlebten – zu zweit mussten sie in einer Fahrerkabine arbeiten, schlafen, kochen – darf man überhaupt sagen: leben? Dringender Handlungsbedarf  auf europäischer Ebene ist offensichtlich, um das grenzüberschreitende Tagelöhnertum zu bekämpfen. Als wichtigsten Schritt sieht der DGB: grenzüberschreitende, zwischen der Exekutive der Mitgliedstaaten koordinierte Kontrollen.

Doch davon scheint sich Europa zu entfernen. Stattdessen geht das Ringen um die Verabschiedung neuer Regeln für den europäischen Straßentransport in immer neue Runden. Was dem einen EU-Parlamentsabgeordneten zu viel an Liberalisierung ist, ist dem anderen zu wenig. Nun könnte es auf europäischer Ebene weder eine Einigung zu den Entsenderegeln noch zu den Lenk- und Ruhezeiten geben. Zwar hatte die deutsche Presse die Kompromisse der europäischen VerkehrsministerInnen zum Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, dem sogenannten EU-Mobilitätspaket, am 4. Dezember 2018 noch positiv bewertet: „Mehr Rechte“, „EU will Fernfahrer schützen“, ihnen „soll es besser gehen“, lauteten die Überschriften. Aus Sicht der Gewerkschaften war dieses positive Echo jedoch von Anfang an fragwürdig: Mehr auf dem Papier heißt nicht mehr in der Realität.

LKW auf einer Straße vor dunklem wolkigem Himmel

DGB/Sitthinan Saengsanga/123RF.com

DGB-Projekt „Faire Mobilität“

So wie die Vorschläge der EU-Kommission im Mobilitätspaket aussehen, das derzeit im Europäischen Rat und EU-Parlament verhandelt wird, ist für die Gewerkschaften nicht erkennbar, dass sich die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Lkw- und BusfahrerInnen grundsätzlich verbessern würden. Denn leben möchte man in einer menschenwürdigen Unterkunft. Außerhalb des Lkw. Doch ein normales Bett haben zum Beispiel die philippinischen Lkw-Fahrer in Europa nicht gesehen, bis die niederländische Gewerkschaft FNV und das DGB-Projekt Faire Mobilität auf sie aufmerksam geworden sind. Seitdem betreuen die GewerkschafterInnen die Männer in Deutschland.

Was unmenschlich und außergewöhnlich klingt, ist dreckiger europäischer Alltag: Auf Europas Straßen sind zigtausende Menschen wochen- und monatelang sehr ähnlich unterwegs. Das bestätigen über 3000 FahrerInnen, mit denen sich die MitarbeiterInnen von Faire Mobilität seit Mitte 2017 auf deutschen und grenznahen Parkplätzen und in deren Heimatsprachen unterhalten haben. Täglich werden die Grundrechte von FernfahrerInnen gebrochen. Für den Erhalt der Mindestlöhne müssten fast alle ihren Job riskieren – denn den Mindestlohn kriegen sie nur, wenn sie ihn rückwirkend einfordern.

Das Spesenmodell

In aller Regel werden FahrerInnen mit osteuropäischen Arbeitsverträgen für Fahrten im Auftrag westeuropäischer Unternehmer nur mit einem osteuropäischen Mindestlohn abgespeist – etwa 500 Euro. Zudem haben sie Anspruch auf Spesenerstattung: Um auf einem Autohof abseits der Autobahn einigermaßen erholt zu schlafen – der aber kostet, im Gegensatz zu kostenlosen Parkplätzen 5 bis 10 Meter neben der Autobahn, wo kein Mensch schlafen will. Die Erstattung der Spesen brauchen sie auch, um zu duschen, saubere Toiletten benutzen zu können oder das Kabinenschlafverbot am Wochenende nicht zu missachten. Doch all diese Kosten sparen sich die FahrerInnen lieber. Denn die Unternehmer rechnen die Spesen auf den Lohn an. So erfüllen sie vermeintlich die Pflicht, den westeuropäischen Mindestlohn zu zahlen, wenn sie die FahrerInnen im Auftrag eines westeuropäischen Unternehmens durch Europa schicken. Sogar für die EU-Kommission ist unstrittig, dass die Auftragsbeziehung zu einem westeuropäischen Auftraggeber rechtlich einer Entsendung entspricht und damit auch zu einem Lohnanspruch im tatsächlichen Arbeitsland führt. Warum also ist das „Spesenmodell“ so verbreitet? Wieso wird es akzeptiert? Weder in der EU-Kommission noch im Europäischen Rat oder im EU-Parlament wird diese Frage diskutiert, geschweige denn beantwortet.

Modernes Tagelöhnertum

Dass FernfahrerInnen nicht wie entsandte Beschäftigte behandelt werden, ist das eine. Doch ein Blick in die Statistiken zur Entsendung verrät: Auch auf dem Papier existieren die Lkw-FahrerInnen nicht als entsandte Beschäftigte. Das bedeutet: LKW-FahrerInnen sind ohne eigene Krankenversicherung mit 40 Tonnen quer durch Europa unterwegs; oft übermüdet, weil ihre Schichten 13 bis 15 Stunden am Tag dauern; übermüdet, weil sie maximal 10 Meter vom Autobahnlärm entfernt schlafen müssen; übermüdet, weil sie in ihren Ruhepausen Ladetätigkeiten erledigen. Warum sie sich darauf einlassen? „Weil alle das machen“, lautet die häufigste Antwort. Kein Wunder also, dass viele EU-Länder über einen riesigen Fahrermangel klagen. Offensichtlich ist der Beruf so unattraktiv geworden, dass Arbeitgeber im eigenen Land keine FahrerInnen mehr finden. Womit die Fahrer von den Philippinen ins Spiel kommen:

Auch die 200 Philippiner haben dauerhaft in Deutschland gearbeitet, waren aber nie krankenversichert. Und sie wurden um das Wenigste betrogen: Um ihre Mindestlöhne an ihrem Arbeitsort.
Die acht Männer, die in Betreuung von FNV und DGB sind, fuhren ständig vom Gelände eines deutschen Auftraggebers los. Der ließ sich vom dänischen Auftragnehmer zwar bescheinigen, dass der deutsche Mindestlohn gezahlt werde. Doch der Däne hat nicht nur seine Fahrer, sondern auch seine Geschäftspartner betrogen: Den Fahrern zahlte er über eine eigens dafür gegründete Briefkastenfirma in Polen etwa 400 Euro Lohn und 600 Euro Spesen – obwohl die Fahrer für Arbeits- und Bereitschaftszeiten im Auftrag des deutschen Unternehmers unterwegs waren. Durch die Auftragsbeziehung waren sie entsandte Beschäftigte und hätten nach deutschem Recht einen Mindestlohnanspruch von etwa 2300 Euro gehabt – plus Spesen.

Fast drei Monate später haben die Fahrer mit gewerkschaftlicher Hilfe die Mindestlöhne zwar eingefordert, bis jetzt hat der Arbeitgeber jedoch nichts gezahlt. Während die Philippiner darauf warten, dass der Betrüger doch noch bezahlt, soll in Brüssel darüber verhandelt werden, wie man Menschen in dieser Branche zukünftig in faire Arbeitsbedingungen bringt. Jetzt wollen FNV und DGB den Fahrern ermöglichen, ein vorliegendes Arbeitsangebot eines deutschen Arbeitgebers zu einigermaßen fairen Bedingungen anzunehmen.

Die EU ist gefordert – aber anders

Statt an einem Straßenverkehrspaket zur Überarbeitung von Regeln herumzudoktern, die jetzt schon nicht eingehalten werden, muss die illegale Praxis von Lohndumping-Unternehmen beendet werden. Obwohl die Straßenverkehrssicherheit schon jetzt gefährdet ist, sind sich Europäischer Rat und EU-Parlament bisher darin einig, dass die reguläre Ruhezeit von mindestens 45 Stunden erst nach 20 Tagen, in denen die FahrerInnen ununterbrochen fahren und in der Kabine übernachten müssen, genommen werden muss. Damit würde das legale Nomadendasein ausgeweitet – aus Sicht der europäischen Gewerkschaften hochgefährlich für die FahrerInnen und alle anderen am Verkehr Teilnehmenden.

Letztlich ist entscheidend, dass die Kontrollpraxis gravierend verbessert wird. Voraussetzung dafür ist neben der frühestmöglichen Einführung digitaler Tachographen auch der elektronische Frachtbrief. Gesetze und Verordnungen helfen jedoch wenig, wenn nicht genügend Personal für Kontrollen eingestellt wird. Zumal der Kontrollaufwand zunimmt, weil immer häufiger leichte Nutzfahrzeuge ab 2,4 Tonnen eingesetzt werden. Auch hier müssen die Regelungen zu Lenk- und Ruhezeiten und die obligatorische Ausstattung mit digitalen Tachographen gelten. Fair hergestellte Waren sind den VerbraucherInnen wichtig – faire Bedingungen für den Transport gehören dazu!

Martin Stuber (DGB), Michael Wahl (Faire Mobilität)


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