Deutscher Gewerkschaftsbund

31.07.2008
Mindestlohn-Interview

Ulrich Zachert: Mindestlohn-Kompromiss ist ein Flickenteppich

Ulrich Zachert

Ulrich Zachert Privat

Ulrich Zachert ist Professor für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfrecht. Bereits 2004 stellte sich Zachert in einer Veröffentlichung die Frage, wie man angesichts der Erosion der Tarifverträge tarifliche Mindeststandards sichern könnte. Ulrich Zachert ist zudem ehrenamtlicher Richter beim Bundesarbeitsgericht und Vertrauensdozent der Hans Böckler Stiftung.

Sowohl Vertreter der Gewerkschaften, als auch der Arbeitsgeber- und Unionsseite bewerteten den Mindestlohn-Kompromiss der Bundesregierung als unzureichend. Es seien Nachbesserungen erforderlich. Herr Zachert, wie bewerten Sie die Mindestlohn-Gesetzesentwürfe der Bundesregierung, die nach langem Streit in der Großen Koalition endlich das Bundeskabinett passiert haben?

Ulrich Zachert: Der Kompromiss der Bundesregierung ist meines Erachtens zu kompliziert. Aus meiner Sicht scheint der Grund für diese komplizierte Lösung der zu sein, dass die Union und die SPD unterschiedliche Ziele verfolgen. Große Teile der CDU möchten am liebsten überhaupt gar keine Mindestlohn-Regelung. Die SPD verfolgt die Einführung weiterer Mindestlöhne, um sich gegen ihre linke Konkurrenz zu behaupten. Außerdem befürwortet der übergroße Teil der Bevölkerung die Einführung von Mindestlöhnen. In dem jetzigen Kompromiss mussten sich eben Teile dieser beiden gegensätzlichen Positionen wieder finden. Das war nicht leicht.

Kritiker aus Gewerkschaftskreisen führen an, dass Dumpinglöhne von arbeitgebernahen Gewerkschaften Bestandschutz erhielten, sollte sich im Falle konkurrierender Tarifverträge für sie entschieden werden. Wird mit diesen Beschlüssen das eigentliche Ziel, Beschäftigten Existenz sichernde Löhne zu zahlen, noch erreicht?

Ulrich Zachert: Nach überschlägiger Schätzung des Bundesarbeitsministeriums würden über drei Millionen Arbeitnehmer von der Ausweitung des Entsendegesetzes erfasst. Auch wenn das zutrifft, ist das im Ergebnis nur eine Teillösung. Noch einmal: Der Mindestlohn-Kompromiss ist kompliziert und kann nicht mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verglichen werden. Dieser, so wie er auch in den meisten europäischen Nachbarländern besteht, stellt natürlich die einfachste Lösung dar. Er wäre eine klare, flächendeckende Regelung gegen Niedrig- oder Armutslöhne. Solch eine Lösung hat man mit den beiden Gesetzesentwürfen zur Ausweitung des Entsendegesetzes und für das Mindestarbeitsbedingungengesetz nicht. Wenn man es kritisch formuliert, ist der Mindestlohn-Kompromiss ein Flickenteppich. Ob er in der Praxis so funktionieren wird, dass tatsächlich Existenz sichernde Löhne gezahlt werden, ist aus meiner Sicht im Moment noch offen.

Fakt ist: Die noch bevorstehende Diskussion in der Koalitionsgruppe über die Aufnahme von bestimmten Branchen ins Entsendegesetz wird neuerlichen Grund zum Streit bieten, wie man bereits an der Debatte über die Einführung von Mindestlöhnen in der Zeitarbeit erkennt. Was halten Sie von dieser Lösung?

Ulrich Zachert: Es ist ja beabsichtigt, den Beschluss vom Kabinett in das parlamentarische Verfahren einzubringen, also in die Ausschüsse und in das Plenum, damit das veränderte Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz am 1. Januar 2009 in Kraft treten können. Da dieses Gesetzesvorhaben so umstritten ist, halte ich es für in Ordnung, wenn die Große Koalition im Vorfeld versucht, die Konflikte, die sich da noch begeben können, klein zu halten. Es ist sinnvoll, wenn man zunächst versucht, informell eine definitive Einigung herzustellen, bevor man die Mindestlohn-Gesetzesentwürfe in das parlamentarische Verfahren bringt. Ob das letztlich hilft, ist bei der derzeitigen Zuspitzung der Situation aus meiner Sicht zweifelhaft.

Was sind denn nun die nächsten Schritte hin zur Ratifizierung der Gesetzesentwürfe?

Ulrich Zachert: Die Gesetzesentwürfe müssen zunächst in das Parlament. Das heißt, sie müssen von Ausschüssen, insbesondere von dem für Arbeit und Soziales, der ja dafür zuständig ist, genehmigt werden. Danach müssen die Entwürfe vom gesamten Parlament verabschiedet werden. Bis zum 1. Januar 2009 müssen diese Schritte vollzogen sein. Das ist zwar nicht mehr viel Zeit, aber es ist zu schaffen. Allerdings nur dann, wenn Union und SPD bereit sind, von ihren Maximalpositionen abzurücken. Ich denke aber, dass eine gute Chance besteht, dass am 1. Januar 2009 die Mindestlohn-Gesetze vom Bundespräsidenten unterzeichnet werden. Beide Parteien haben schließlich ein Interesse daran, dieses Thema aus dem Wahlkampf 2009 herauszuhalten. Die CDU möchte einem Wahlkampf zum Mindestlohn aus dem Weg gehen und die SPD möchte ihrem Wählerklientel bereits vor der Wahl einen Teilerfolg präsentieren. Das ist die Chance für den Mindestlohn.

Das Bundesland Baden-Württemberg hat bereits angekündigt, den Gesetzesentwürfen nicht zustimmen zu wollen. Was könnte denn diesen Gesetzesentwürfen jetzt noch im Weg stehen?

Ulrich Zachert: Das Ausbrechen eines Bundeslandes würde die Gesetzesentwürfe nicht zu Fall bringen, wenn die anderen Länder dem zustimmen. Ich sehe keine unmittelbare Gefahr dafür, dass die Mindestlohn-Gesetze blockiert werden. Viel eher sehe ich das Risiko, dass etwa von der Arbeitgeberseite gesellschaftlicher Druck entwickelt wird. Wenn der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, etwa behauptet, es müsse in jedem Fall der Vorrang des Tarifvertrages gewährleistet werden, dann ist das eine Stimme, die Gewicht hat und die informellen Druck auf die CDU ausüben könnte. Hier sehe ich die Gefahr, dass die Politik einknickt. In den Arbeitsgruppen und in den parlamentarischen Verfahren könnten so große Widerstände aufgebaut werden, dass entweder ein noch komplizierterer Mindestlohn-Kompromiss entsteht oder er aber völlig scheitern könnte. Letzteres halte ich allerdings für unwahrscheinlich, weil die Koalitionspartner ein Interesse daran haben, dass etwas dabei herauskommt.

Aus wirtschaftsnahen Kreisen stammt die Behauptung, dass die Mindestlohn-Gesetzesentwürfe eine Ermächtigung zu staatlicher Lohnfestsetzung darstellten. Wie steht es also um die Tarifautonomie in Deutschland?

Ulrich Zachert: Ich bin seit langem ein Anhänger der Tarifautonomie. Tarifautonomie heißt ja nichts anderes als das die Lohn- und Arbeitsbedingungen autonom, möglichst unabhängig zwischen den Tarifparteien selbst, also zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, festgelegt werden. Das hat viele Jahrzehnte gut funktioniert. Nur stellt sich die Frage, was nützt die Tarifautonomie den einzelnen Beschäftigten, wenn sie nur auf dem Papier steht. Wir müssen seit vielen Jahren feststellen, dass zunehmend Arbeitsverträge oder Tarifverträge ein Entgelt für Beschäftigte festlegen, dass zu viel ist, um zu sterben, aber zu wenig ist, um sich und die Familie damit durchzubringen. Wir sind aber nach dem Sozialstaatsgebot ein demokratischer und sozialer Staat. Eine soziale Demokratie kann vor einer solchen Situation nicht länger die Augen verschließen. Das Beste wäre natürlich, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass die Tarifparteien in der Lage wären, den Beschäftigten durch Tarifverträge ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Wenn das aber nicht der Fall ist, muss aus meiner Sicht nach dem Sozialstaatsgebot der Staat regulierend eingreifen. Außerdem gibt es eine Anzahl von sehr gründlichen Untersuchungen, die ausweisen, dass eine gesetzliche Fixierung des Mindestlohns in unseren Nachbarstaaten keineswegs der Tarifautonomie geschadet hat. Ich glaube deshalb nicht, dass ein Mindestlohn die Tarifautonomie beschädigen würde. Im Gegenteil: Ein Mindestlohn ist ein Sockel, der ein gewisses Grundeinkommen absichert, auf dem die Tarifparteien aufbauen können.


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