Deutscher Gewerkschaftsbund

Die Hochschule der Zukunft

31.01.2012
Standpunkte zur Hochschule der Zukunft

Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ - Gohlke: "Ver­schulte Studiengänge werden dem nicht gerecht"

Das Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ in der Diskussion

Forschung hat nicht nur den Anspruch technische Probleme zu lösen. Sie sollte auch gesellschaftliche Ziele und Institutionen rational überprüfen. Damit sind besondere Anforderungen an das Studium verbunden. Gefordert ist die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Umgang mit widerstreitenden Interessen und Sichtweisen, ver­schulte Studiengänge werden dem nicht gerecht.

Von Nicole Gohlke, Hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Blick in den Lesesaal des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin.

Blick in den Lesesaal des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin. DGB/Simone M. Neumann

Auf der Hochschuldebatte der letzten Jahrzehnte lastete nicht nur die schleichende Verschlechterung der Zustände, sondern auch die Vorherrschaft eines Leitbildes, das die Hoch­schulen als marode Unternehmen versteht, die einer marktorientierten Rosskur bedürfen.

Hans-Böckler-Stiftung und DGB haben mit ihrem Leitbild der Demokratischen und Sozialen Hochschule klare Gegenposition bezogen zum Ziel der Unternehmerischen Hochschule. Sie haben deutlich gemacht, dass es Alternativen gibt, und damit Debatte ermöglicht. Ich teile die Grundrichtung dieses alternativen Leitbildes und nehme die Einladung zur Debatte gerne wahr, um zu ausgesuchten Aspekten weitere Überlegungen anzustellen.

„Wissenschaft und Forschung tragen zur Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien bei.“ Mit dieser Feststellung erklären die Gewerkschaften die Hochschulpolitik zu Recht zu einer gesamtgesellschaftli­chen Frage. Auch die Kapitalvertreter wie etwa BDI und BDA melden in ihrem hochschulpoli­tischen Leitbild großes Interesse an und definieren sich als „Stakeholder“ der Hochschulen.

Da Erkenntnis und Interesse nicht unabhängig voneinander sind und unsere Gesellschaft von unterschiedlichen, teils entgegen gesetzten Interessen geprägt ist, stellt sich die Frage, in wessen Interesse geforscht und wissenschaftlich ausgebildet wird. Im Rahmen von Lissabon-Strategie und Bologna-Reformen wird diese Frage so beantwortet, dass die Forschung in den Dienst der Wettbewerbsfähigkeit Europas gestellt und das Studium am Ziel der Ar­beitsmarktgängigkeit ausgerichtet wird.

Mit den Kapitalinteressen fällt diese Ausrichtung sicherlich zusammen. Doch gilt dies auch für das Allgemeinwohl?  Hier sind Zweifel angebracht.

Erstens sind wichtige Menschheitsprobleme wie Hunger, Klimawandel, Krieg und Menschenrechtsverletzungen nicht rein technischer, sondern zumindest auch gesellschaftlicher Natur. Sie bedürfen wissenschaftlicher Analyse und wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Die Lösung dieser Probleme kann es notwendig machen, den Imperativ fortgesetzter Kapitalver­wertung infrage zu stellen. Stellt man Wissenschaft unter die Bedingung der Verwertbarkeit, werden notwendige Lösungen dieser Probleme nicht nur nicht verfolgt, sie werden bekämpft. Das Problem wird offensichtlich, wenn man an die von Finanz-, Chemie- und Rüstungskon­zernen gestifteten Lehrstühle denkt.

Mit dem Anspruch an Forschung, nicht nur technische Probleme zu lösen, sondern auch die gesellschaftlichen Zielsetzungen und Institutionen selbst einer rationalen Prüfung zu unter­ziehen, sind besondere Anforderungen an das Studium verbunden. Es geht um die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Umgang mit widerstreitenden Interessen und Sichtweisen. Ver­schulte Studiengänge werden dem nicht gerecht.

Zweitens ist die Frage, wer wie ausgebildet wird, eng verbunden mit der Frage, wer welche Arbeit leisten soll. Strebt man die Demokratisierung des Wirtschaftslebens an, geht es auch um eine veränderte Arbeitsteilung, in der Menschen nicht mehr im Wesentlichen nur ausführen, sondern mitentscheiden. Es kann also nicht darum gehen, die Bildung passiv an den Arbeitskräftebedarf der Unternehmen anzupassen, sondern darum, alle Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Interessen und das Allgemeinwohl auch mit wissenschaftli­chen Mitteln zu erfassen und zu verfolgen. Dies verlangt nach der sozialen Öffnung der Hochschule einerseits, nach einer engeren Verbindung von Berufsausbildung und Wissen­schaft und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit andererseits.

Es kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass auch Kapitalvertreter automatisch ein Interesse an einer möglichst umfassenden Ausbildung der Beschäftigten haben. Dem widersprechen nicht nur die zahlreichen bildungspolitischen Initiativen von CHE, IW, BDI, BDA, INSM usw. Es ist auch nachvollziehbar, dass gut ausgebildete, selbstbewusste Beschäftigte weder die Dominanz von Kapitalinteressen in der Unternehmensführung noch eine Niedriglohnstrategie im Verdrängungswettbewerb mit USA und China einfach so hinnehmen werden. Zudem ist eine bessere Ausbildung der Beschäftigten nicht umsonst zu haben. Sie führt nicht nur zu höheren Lohnforderungen, sondern erfordert auch höhere Unternehmens-Steuern zur Finanzierung öffentlicher Bildung. Die Arbeitgeber haben die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen auch deshalb gefordert, weil sie sich davon ein nach Ausbildungstiefe und Gehaltsansprüchen differenziertes Angebot an Arbeitskräften erhoffen. Das Ziel haben sie noch nicht erreicht. Die Forderung nach einem Recht auf ein Master-Stu­dium birgt deshalb besondere Sprengkraft.

Unsere Gesellschaft muss entscheiden, wie viel Lebenszeit für Bildung zur Verfügung stehen soll und wie viel für Arbeit. Die steigende Arbeitsproduktivität schafft Freiräume für Bildung, Wissenschaft, gesellschaftliches Engagement und Persönlichkeitsentwicklung. Werden sie nicht genutzt, oder gar die Lebensarbeitszeit noch weiter verlängert, ist Massenarbeitslosig­keit die Folge.


Nach oben
  1. Sozial und demokratisch: DGB stellt hochschulpolitisches Programm vor
  2. Standpunkte zur Hochschule der Zukunft - Meyer-Lauber: Gute Arbeit für eine innovative Wissenschaft - Perspektiven aus NRW
  3. Kaase/Staudinger über die Bologna-Reform und die Internationalisierung des Studiums
  4. Leitbild "Demokratische Hochschule"- Wanka: Studierende als Kunden behandeln
  5. Sternberg: Bildungsgerechtigkeit als Teil der Hochschulpolitik
  6. Leitbild "Demokratische Hochschule" - Dobischat: "Debatte nicht den Hochschulen überlassen"
  7. Leitbild "Demokratische Hochschule" - Bultmann: "Breitenfinanzierung unabdingbar"
  8. Ingrid Sehrbrock: Hochschulen müssen offener werden
  9. Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ - Wiesehügel: "Unbeschränkter und kostenloser Zugang ist Kernanliegen"
  10. Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ - Sattelberger: "Kostenloses Studium ist gesellschaftspolitisch ungerecht"
  11. Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ - Gohlke: "Ver­schulte Studiengänge werden dem nicht gerecht"
  12. Hinz: "Durchlässigkeit des Bildungssystems erhöhen"
  13. Luzina/Jaros/Campusgrün: "Nachhaltigkeit auf allen Hochschulebenen"
  14. Huber: "Wissenschaft als kritische Wissenschaft etablieren"
  15. Leitbild "Demokratische Hochschule"- Rossmann: "Mut zur Idee der Europäischen Hoch­schule"
  16. Leitbild "Demokratische Hochschule"- Vassiliadis: "Den Bildungsbereich als Gan­zes betrachten"
  17. Leitbild "Demokratische Hochschule" - Schorlemer: "Zukunftspotentiale generieren, Wissenstransfer stärken"
  18. Leitbild "Demokratische Hochschule" - Doris Ahnen: "Hürden abbauen"
  19. Frank Bsirske: "Hürden der Bildungsbeteiligung abschaffen"
  20. Leitbild "Demokratische Hochschule" - Schavan: "Klare Verantwortlichkeiten bei Einbindung aller Beteiligten"
  21. Dieter Lenzen: "Partizipationsfrage in neuer Weise stellen"
  22. Juso-Hochschulgruppen: "Einbindung der Studierenden unverzichtbar"
  23. Anbuhl: "Soziale Öffnung ist Kernaufgabe"
  24. Michael Sommer - "Wir verstehen Bildung als soziale Frage“
  25. Michael Sommer: "Keine Vermarktung des Hochschulwesens"
  26. Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ - Konzept trifft auf Praxis
  27. Tagung: Leitbild trifft Praxis
  28. 4. Hochschulpolitisches Forum: Leitbilder in der Diskussion
  29. Auf dem Weg zum Hochschulpolitischen Programm
  30. "Leitbild triff auf Praxis" - Eine Diskussion zur Hochschulentwicklung
  31. Von der Ware zum öffentlichen Gut – Hochschule der Zukunft