Deutscher Gewerkschaftsbund

21.03.2019

Gewerkschaft als soziale Bewegung

einblick April 2019

Barack Obama war Community Organizer – Obama kennt jeder, aber was ist Community Organizing? Vor allem in den USA nutzen Bürgerplattformen und Gewerkschaften die Methode, um ihre Anliegen kreativ durchzusetzen.

Junge Menschen Frauen und Männer bilden eine Kreis und halten sich an den Hängen

DGB/rawpixel/123RF.com

Als Laurence Hanley, der Chef der US-Gewerkschaft Amalgamated Transit Union (ATU), 2016 ahnte, dass seine Gewerkschaft durch ein Gerichtsurteil Tausende Mitglieder verlieren könnte, zögerte er nicht lange. Das bedrohliche Urteil würde die bisherigen Pflichtbeiträge zur Gewerkschaft in freiwillige Beiträge verwandeln, viele der rund 190 000 Mitglieder würden aber voraussichtlich nicht freiwillig zahlen und die Gewerkschaft lieber verlassen. Es sei denn, sie werden vom Gegenteil überzeugt – rechtzeitig. Hanley war schon länger ein Anhänger von „community organizing“, nun wollte er mit dieser Methode die Mitglieder halten.

Er hatte zwei Jahre Zeit. Im Juni 2018 fiel das Urteil, der Pflichtbeitrag war abgeschafft. Aber die ATU, die in den USA und Kanada den öffentlichen Bahn- und Busverkehr organisiert, hat heute mit über 200 000 mehr Mitglieder als zuvor.

Praktisch jeder kennt in Deutschland den prominentesten Community Organizer – Ex-US-Präsident Barack Obama. Auch die Jungpolitikerin der US-Demokraten, Alexandria Ocasio-Cortez, war Community Organizerin. Doch was hinter der Methode steckt, von der Obama sagt, sie sei prägend für ihn gewesen, wissen nur wenige. Laut dem Deutschen Institut für Community Organizing gibt es derzeit vier Plattformen, die sich auf diese Weise organisieren, davon drei in Berlin.

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DGB/einblick

Bei den Menschen anfangen heißt, mit ihnen sprechen

„Es ist nicht kompliziert“, sagt Jonathan Lange vom US-Dachverband der Bürgerplattformen Metro IAF. Lange arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Organizer, Ausbilder und Supervisor auch für deutsche Organizer. „Aber es ist anstrengend. Normalerweise gibt es ein vorgegebenes Ziel, für das mit einer Kampagne mobilisiert wird. Wir drehen das um. Wir fangen mit den Menschen an, versuchen zu verstehen, wofür sie stehen, und organisieren dann.“ Das Vorgehen ist klar strukturiert: Bei den Menschen anfangen heißt, mit ihnen sprechen. In der Gemeinde, in Slums, in Betrieben. Einzeln. Persönlich. Später in kleinen Gruppen. „Es geht darum, Beziehungen und Vertrauen aufzubauen, über alle Grenzen hinweg: Kultur, Rasse, Bildung.“ Hat eine relevante Zahl an Interessierten herausgefunden, welches Ziel sie gemeinsam erreichen wollen, suchen sie Verbündete – Kirchen, Gewerkschaften, Umweltorganisationen, und eine unabhängige, nichtstaatliche Finanzierung. Sie analysieren Machtstrukturen, denken sich Aktionen aus – und legen los.

Die Liste der Erfolge ist lang: In den USA sorgten diese Bürgerplattformen für Schulen, Förderprogramme, Wohnungsbau, oder Betten für Arme in Kliniken. Sie erzwangen in Baltimore schon vor 20 Jahren einen anständigen Mindestlohn (Living Wage). Der neueste Erfolg: Im Januar 2019 widersetzte sich in Baton Rouge, der Hauptstadt von Louisiana, die Schulbehörde zum ersten Mal der üblichen Aufforderung von Ölgigant Exxon-Mobil auf Steuervergünstigungen und kassierte die 2,9 Mio. Dollar – dieses Nein war der New York Times ein langer Artikel wert. Gegen die Steuervergünstigung hatte die Bürgerplattform „Together Baton Rouge“ vorher monatelang mobilisiert. Laut Industrial Areas Foundation (IAF), dem Weltdachverband der Plattformen, gibt es mittlerweile 65 davon, in den USA, Kanada, Großbritannien, und Deutschland.

Community Organizing: Gute Idee für Gewerkschaften

Für Gewerkschaften empfiehlt Lange, selbst in vierter Generation Gewerkschafter, eine Variation der klassischen Methode. „Bei der ATU wurden über 1500 Freiwillige trainiert. Das Ziel: Sie sollten 100 000 Mitglieder mit Pflichtbeiträgen dazu bringen, ihre Mitgliedschaft erneut und freiwillig zu unterschreiben“, erzählt er. Die Strategie ging auf. Auch heute noch werden ATU-Mitglieder auf dem gewerkschaftseigenen Campus geschult.

Das Community Organizing veränderte dabei die Gewerkschaft – von einem System mit wenig Kontakt zu Mitgliedern und Außenstehenden zu einer Bewegung. So verbündete sich die ATU mit Organisationen und Passagieren im Distrikt Washington, als klar wurde, dass das öffentliche Metro-System die Flickschusterei aus Reparaturen und Nichtstun nicht mehr lange aushalten würden. Ein großes Bündnis forderte mit Aktionen millionenschwere Investitionen - und setzte sie 2018 durch.

Zurück zu den Anfängen

Und deutsche Gewerkschaften? Organizing nutzen vor allem IG Metall und ver.di schon lange, um gezielt Kampagnen zu fahren und Mitglieder zu binden. Ein ähnlich hoher personeller und finanzieller Ressourceneinsatz wie beispielsweise bei der ATU findet sich nicht. Jonathan Lange sieht in Gewerkschaften als soziale Bewegung aber die Zukunft: „Diese Methoden sind nicht neu. Wir sind quasi altmodisch mit unserer Gegenkultur zur Individualisierung. Vor über 100 Jahren wurden aber so Gewerkschaften gegründet. Wir wollen diese Glut wieder zum Feuer entfachen.“


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