Deutscher Gewerkschaftsbund

Von Arbeitszeit bis Vereinbarkeit

20.07.2022
Neue Studie belegt:

Gewalt im Dienst? Für viele Beschäftigte schon lange Alltag.

Gaffen und Stören beim Sichern der Unfallstelle, Beschimpfungen oder Handgreiflichkeiten im Jobcenter, wüste Pöbeleien beim Verteilen von „Knöllchen“: Dass Übergriffe auf Mitarbeitende des öffentlichen Dienstes ganz nach oben auf die politische Agenda gehört, zeigt nun eine vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie, an der auch der DGB als Partner mitgewirkt hat. Während die Studienergebnisse die Erfahrungen vieler Beschäftigter bestätigen, bleibt die Frage offen, wann öffentliche Arbeitgeber, privatisierte Unternehmen und die Politik endlich handeln?

Mann drückt Faust gegen Glasscheibe

DGB / iStock

Anlässlich der Veröffentlichung der Studie besuchte Bundesinnenministerin Nancy Faeser gemeinsam mit Katja Karger, Vorsitzende des DGB-Bezirk Berlin-Brandenburg, und dbb-Chef Ulrich Silberbach am 24. Juni 2022 Mitarbeiter:innen des Ordnungsamtes in Berlin-Mitte, die von ihren Gewalterfahrungen berichteten. Die zum Teil erschütternden Erlebnisse der Beschäftigten bestätigten die anschließend vorgestellten Studienergebnisse.

Wenn der Locher zur Waffe wird und das Büro zu Falle
Laut Studie hat bereits fast jeder vierte Beschäftigte (23 Prozent) des öffentlichen Diensts im Berufsalltag Gewalt erlebt, zwölf Prozent gaben an, sogar mehrere gewalttätige Vorfälle innerhalb eines Jahres erlebt zu haben. Die Gewalterfahrungen unterscheiden sich stark nach dem Beschäftigungsbereich: Während bei Feuerwehr, Rettungskräften, Justizvollzug und Ordnungsamt sogar ein Drittel der Mitarbeitenden innerhalb eines Jahres Übergriffe erleben mussten, sind es bei Beschäftigten in der Sozial- und Arbeitsverwaltung, in Hochschulen und der Justiz weniger als zehn Prozent. Männer sind dabei häufiger betroffen als Frauen. Zudem bestätigte sich die Vermutung, dass sich die Corona-Pandemie negativ auf das Miteinander auswirkt. Denn die Zahl der Vorfälle ist während der Pandemie vor allem in den Bürgerämtern, im Gerichtsvollzug, der Justiz sowie gegen Mitarbeitende des Ordnungsamtes stark gestiegen.

Gewalt in Form von Beleidigung ist dabei am häufigsten angegeben worden. Auf 1.000 Beschäftigte wurden 14 Fälle erfasst. Direkt danach folgten die Straftatbestände Bedrohung (neun Fälle), schwere Gewaltarten wie versuchte Körperverletzung (drei Fälle) und Körperverletzung (zwei Fälle). Auffällig war zudem, dass viele Übergriffe keine Einzelfälle waren. Knapp die Hälfte aller Opfer berichtete etwa davon, dass sie mehr als dreimal pro Jahr beleidigt wird. 22 Prozent der Betroffenen wurden sogar mindestens zehnmal pro Jahr beleidigt.

Hohe Dunkelziffer und erschreckende Folgen
Bei den Ergebnissen ging eine zweite dramatische Erkenntnis fast schon unter: Lediglich rund 30 Prozent der erlebten gewalttätigen Übergriffe wurden an Vorgesetzte oder andere Stellen gemeldet. Die Dunkelziffer liegt laut Studie bei 70 Prozent. Der Grund dafür? Viele Beschäftigte gaben an, sie hätten den bürokratischen Aufwand gescheut. Weitere 56 Prozent der Betroffenen erklärten, sie hätten den Vorfall nicht gemeldet, weil sie dadurch keine Änderung der Situation erwarteten. Und elf Prozent gaben an, nichts unternommen zu haben, weil sie negative Konsequenzen fürchteten.

Grafik zeigt Kreisdiagramm - 30 Prozent gemeldete Überfälle

DGB-Magazin BM

Gerade von Feuerwehr- und Rettungskräften wird im Schnitt nur jede fünfte Tat gemeldet. Mit der Schwere des Delikts nimmt die Dunkelziffer zwar ab, so werden beispielsweise weniger als 20 Prozent der Beleidigungen gemeldet, aber auch bei schweren Delikten wie Körperverletzungen werden nur 62 Prozent der Fälle gemeldet.

Ein wesentlicher Grund für die hohe Dunkelziffer scheinen laut Studie die Vorgesetzten zu sein. Beim Thema „Schutz der Beschäftigten vor gewalttätigen Übergriffen“ halten 91 Prozent der befragten Beschäftigten das Thema für (eher) wichtig. Der Stellenwert nimmt dabei jedoch mit jeder Hierarchieebene ab (direkte Vorgesetzte 63 Prozent, Bereichsleitung 53 Prozent und Behörden-/Dienststellenleitung 47 Prozent). Die hohe Dunkelziffer ist ein dramatischer Beleg für die Resignation vieler Beschäftigter ob der Gleichgültigkeit vieler Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Dienstherrinnen und Dienstherren beim Thema. Dabei ist der Handlungsdruck groß, denn 44 Prozent der befragten Beschäftigten haben der Studie zufolge nach einem Übergriff ein ungutes Gefühl bei der Arbeit. Jeder vierte Betroffene litt demnach unter psychischen Problemen wie Schlafstörungen, depressiven Verstimmungen oder Depressionen.


Grafik zeigt ausgewählte Vorfalle auf 1.000 Beschäftigte

DGB-Magazin BM


Teil der Lösung liegt auf der Hand
Neben dem Ausmaß des Problems, ergab die Studie aber auch Erkenntnisse darüber, wie Übergriffe minimiert werden können. Deeskalations- und Kommunikationstrainings wurden von den Beschäftigten als präventive Maßnahme vergleichsweise schlecht bewertet. Positiver wird das Aufwand-Nutzen-Verhältnis von Schulungen zur Eigensicherung bewertet. In fünf der acht betrachteten Beschäftigungsbereiche kommen Alarmsysteme zum Einsatz. Im Justizvollzug werden sie demnach fast flächendeckend eingesetzt, in der Arbeits- und Sozialverwaltung ebenfalls sehr häufig (79 Prozent). Laut Studie wird deutlich, dass die Verbreitung verschiedener Präventionsmaßnahmen stark vom jeweiligen Dienstbereich abhängt. Zudem würden Präventionsmaßnahmen generell positiver bewertet, wenn sie bereits im Einsatz sind. Hieran kann man nach Ansicht des DGB Anknüpfen.

Es bleibt noch viel zu tun
Die eigentliche Arbeit beginnt also nun. Yasmin Fahimi, Vorsitzende des DGB, bewertet die Ergebnisse kritisch: „Die Ergebnisse der Studie untermauern, worauf der DGB seit mehreren Jahren mit seiner Initiative Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch hinweist: Gewalt gegen Beschäftigte ist kein Randphänomen, gerade im öffentlichen Dienst. Deutlich wird aber auch, dass es enorme Lücken gibt: Oft fehlt den Beschäftigten die Unterstützung ihrer Vorgesetzten. Viele Gewaltvorfälle werden deshalb erst gar nicht gemeldet und ein Großteil der Befragten fühlt sich nicht sicher im Dienst. Das sind unhaltbare Zustände, die die Arbeitgebenden beseitigen müssen. Dabei geht es auch darum, die Führungskräfte für die Wichtigkeit von Präventiv- und Nachsorgemaßnahmen zu sensibilisieren – und dafür, möglichst unkomplizierte Meldeverfahren einzurichten.“

Grundlagenstudie in Form und Umfang einmalig
Die von DGB und dbb mitgetragene Studie wurde 2020 vom Bundesministerium des Innern und für Heimat beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) in Speyer in Auftrag gegeben. Ziel des Projektes war es, eine Faktenbasis für die Entwicklung nachhaltiger und differenzierter Strategien zum Umgang mit Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu schaffen, da bislang sowohl flächendeckende Zahlen zu Übergriffen als auch ein systematischer Überblick über praktische Erfahrungen mit Ansätzen zur Eindämmung der Gewalt fehlen. In puncto Umfang ist die Studie bislang einmalig. Denn sie fasst erstmals vorhandenes Datenmaterial sowie andere Studien und Veröffentlichungen zusammen. Zudem wurden insgesamt über 10.000 Beschäftigte und mehr als 1.600 Behörden befragt, wobei die Polizei in die Untersuchungen nicht mit einbezogen wurde, da aktuell an eigenständigen Studien gearbeitet wird.

DGB-Initiative: Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch
Die Initiative Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch wird vom DGB und seinen acht Mitgliedsgewerkschaften – IG BAU, IG BCE, IG Metall, EVG, GdP, GEW, NGG und ver.di – getragen. Seit zwei Jahren macht der DGB mit der Initiative auf das Problem der Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst und privatisierten Sektor aufmerksam. Mit Plakatkampagnen, Veranstaltungen und im direkten Gespräch mit Betroffenen und Verantwortlichen tragen wir das Problem in die Öffentlichkeit, in Dienststellen und in die Politik.

Weitere Informationen zur Initiative gibt es auf der Webseite www.dgb.de/mensch.

Die Studienergebnisse können unter www.foev-speyer.de heruntergeladen werden.


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