Deutscher Gewerkschaftsbund

05.11.2021
Europa & Wahlen

Europa europäisch denken: zur Frage der transnationalen Wahllisten zum Europäischen Parlament

von Klaus Feldmann und Moritz Wille, mit Unterstützung von Europäer*innen des Projektes MeetEU.eu

Wir kennen Wahlen zum Europäischen Parlament als nationale Ereignisse, in denen nationale Politiker auf Basis nationaler Wahlprogramme mit nationalen Themen um Stimmen werben. Vielfach ziehen sie dann mit dem Wählerauftrag ins Parlament, den nationalen Vorteil auf Kosten anderer Mitgliedsländer oder gar des einigen Europas zu suchen. Das muss sich ändern, damit ein geeintes Europa gelingen kann!

Mann steckt Umschlag in eine Wahlurne, die vor einer Europa-Flagge steht

DGB/Tzogia Kappatou/123rf.com

Bei den Europawahlen 2014 und 2019 wurden erste Schritte zur Europäisierung der Europäischen Parlamentswahl getan, indem erstmal viele europäische Parteienfamilien mit Spitzenkandidat*innen antraten. Doch schon beim zweiten Mal kam der Weg in Verruf. Da die ehemals großen Parteien der Sozial- und Christdemokratie nicht mehr, wie noch 2014, eine große Koalition rechnerisch zustande bringen konnten, fehlte dem eigentlichen "Wahlsieger" Manfred Weber (Europäische Volkspartei) die unterstützende Mehrheit im Parlament. Als sich die Fraktionen des Europäischen Parlaments nicht auf eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten einigen konnten, verständigten sich die Staats- und Regierungschefs auf ein Gesamtpaket für alle neu zu besetzenden EU-Spitzenposten, inklusive eines Vorschlags für den Präsidenten des Europäischen Parlaments, obwohl dies nicht zu ihrer Aufgabe gehört. Das Europäische Parlament bestätigte diese Kandidat*innen und nahm damit nur die Rolle eines Notars ein, der eine Entscheidung bestätigt, die woanders gefällt wurde.

Der als schleichender Verfassungswandel bezeichnete Weg führte auf diese Weise in eine Sackgasse. Die Haltung Emmanuel Macrons bestätigt den Eindruck. "Es gibt keine rechtliche Grundlage für die Installation von Spitzenkandidaten bei der Europawahl!" Dem wird entgegengehalten, dass der Vertrag von Lissabon genau so zu lesen sei. Die Unzufriedenheit mit dem Verfahren im Gefolge der Parlamentswahlen 2019 führten dazu, dass seit Anfang 2020 Überlegungen zur Verstetigung und Reform des Spitzenkandidatenverfahrens mit transnationalen Listen laufen.

Angesichts der Herausforderungen, die sich bei der Genehmigung und Einführung transnationaler Wahllisten stellen, schlagen wir im Rahmen des Projektes MeetEU eine alternative, pragmatische Lösung vor, die die Einführungshürden für transnationale Wahllisten vermeidet und gleichzeitig den transnationalen Charakter der Wahlen zum Europäischen Parlament vertieft. Die Einführung von transnationalen Wahllisten, die den erforderlichen Wandel herbeiführen sollen, wird seit den 1990er Jahren diskutiert. Das Projekt ist jedoch mit Herausforderungen behaftet, die seine geplante Verabschiedung im Parlament im Oktober dieses Jahres in Frage stellen.

Transnationale Wahlprogramme - eine pragmatische Lösung

Die erwarteten positiven Auswirkungen der transnationalen Wahllisten auf die Europawahlen beruhen auf zwei Säulen:

Grafik

DGB

Wir behaupten, dass der positive Einfluss der transnationalen Liste auf die Europäisierung der Wahlen zum Europäischen Parlament in erster Linie auf Säule 2 beruht, d.h. in der Existenz echter transnationaler Wahlkampfplattformen, während Säule 1, die eigentliche Liste mit Kandidaten aus mehreren Mitgliedstaaten, die Hindernisse und Hürden für ihre Akzeptanz mit sich bringt. Daher schlagen wir vor, Säule 1 fallen zu lassen und sich ganz auf Säule 2, die Einführung von transnationalen Wahlkampfplattformen, zu konzentrieren.

Eine kleine Änderung mit großer Wirkung

Um diese Änderung herbeizuführen, plädieren wir, den Zusammenschluss von nationalen Parteien zu einer Fraktion im Europäischen Parlament von der Existenz eines gemeinsamen Europäischen Wahlprogrammes für den spezifischen Wahlzyklus abhängig zu machen.

Die Festlegung eines gemeinsamen Wahlprogrammes als Voraussetzung für den Zusammenschluss in einer Europäischen Parlamentsfraktion erfordert eine Änderung von Artikel 33 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. In der bisherigen Praxis ist es hinreichend, dass die antragstellenden Parteien zur Erfüllung der Anforderung der politischen Affinität ihre politische Zusammengehörigkeit erklären. Unser Vorschlag, die Vereinbarung eines gemeinsamen europäischen Wahlprogrammes und eines darauf basierenden Wahlkampfes als Voraussetzung für die Zubilligung des Fraktionsstatus zu etablieren, führt notwendig zu einer Europäisierung des Wahlkampfes.

Die Europäischen Politischen Parteien können die natürlichen Träger dieses Wandels hin zu gemeinsamen Wahlprogrammen sein, indem sie ihre im EU-Sekundärrecht festgelegten Aufgaben erfüllen: "Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Bildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des politischen Willens der Unionsbürger bei und spielen eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die Stimmen der Bürger auf europäischer Ebene zu artikulieren."

Diese kleine Änderung wird die Vorteile von transnationalen Listen mit sich bringen: Sie wird Themen von europäischer Bedeutung in den Mittelpunkt jeder Kampagne stellen, das Spitzenkandidat*innen-System ermöglichen, europäische Aspekte in die nationalen Parteidiskussionen einbringen, sowie eine europäische politische Kommunikation in den Medien und in den politischen Parteien erleichtern. Darüber hinaus wird das Europäische Parlament gegenüber anderen EU-Institutionen gestärkt, da es den Wähler*innen die Möglichkeit gibt, den regionalen Kandidaten/die regionale Kandidatin für das Europäische Parlament mit einer europäischen Dimension zu verbinden. Mehr noch: Diese Vorteile werden im Wahlkampf für alle Sitze im Parlament zum Tragen kommen, nicht nur für die begrenzte Anzahl, die für transnationale Wahllisten reserviert ist.

Dabei werden die meisten Hürden für die Akzeptanz von transnationalen Listen beiseitigt: Keine Änderungen der Wahlgesetze, der Verfahren, der Verfassungen in den Mitgliedstaaten oder sogar der EU-Verträge, keine Probleme mit der Rangfolge der Kandidaten auf den Listen, keine Auswirkungen auf die Anzahl der Abgeordneten pro Mitgliedstaat als Ergebnis der Wahl, keine Änderungen bei der Wahlkampffinanzierung.

Nichts steht im Weg!

Dieser Vorschlag ist nicht nur ein pragmatischer erster Schritt in Richtung der möglichen Einführung vollständiger transnationaler Listen und ein wichtiges Thema für die Konferenz zur Zukunft Europas: Es gibt schon heute nichts, was die Europäischen Politischen Parteien, die sich lautstark für transnationale Listen aussprechen, davon abhalten könnte, mit der Arbeit an ihrer gemeinsamen europäischen Wahlkampfplattform für die Wahlen im Jahr 2023 zu beginnen. Und damit zu gewinnen!


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