Deutscher Gewerkschaftsbund

19.07.2021
Schweizer Rahmenabkommen mit der EU in der Sackgasse

Guter Sozialschutz – Zuviel für die Europäische Union?

von Susanne Wixforth und Lukas Wiehler (beide DGB)

Am 26. Mai 2021 ist das Schweizer Rahmenabkommen, das auf eine engere Einbindung in die Europäische Union abzielte, gescheitert. Inakzeptabel war aus Schweizer Sicht vor allem, dass die EU die „flankierenden Maßnahmen“ zur Bekämpfung von Schwarzarbeit als unvereinbar mit dem EU-Binnenmarkt erklärte. Die Dienstleistungsfreiheit auf Kosten der EU-Beschäftigten erhielt damit Vorrang vor der Durchsetzung des Grundsatzes „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Aus Sicht der Gewerkschaften muss hier eine europäische Lösung her. Die Konferenz zur Zukunft Europas, mit der die EU am 9. Mai 2021 einen einjährigen Reformprozess gestartet hat, sollte diesen Missstand dringend aufgreifen.

Flagge Schweiz und Flagge Europäische Union in einander laufend

DGB/ruskpp/123rf.com

Sowohl die Mitgliedsstaaten als auch die EU Kommission zeigten sich enttäuscht und überrascht von der „Radikalisierung der Berner Position“. Dabei hatte sich die ablehnende Haltung des Schweizer Bundesrats bereits abgezeichnet. Die Weigerung der EU, die Schweizer flankierenden Maßnahmen anzuerkennen, zeigt, dass die EU die Verletzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ im Sinne der EU-Entsenderichtlinie immer noch als Kavaliersdelikt sieht. Denn bei den Schweizer Maßnahmen geht es gerade um die Durchsetzung dieses Prinzips, indem Ankündigungsfristen für die Aufnahme der Arbeit in der Schweiz, die Hinterlegung einer Kaution für allfällige Geldstrafen, die Häufigkeit der Kontrollen und die Strafhöhe festgelegt werden. Schutzvorschriften, die darauf abzielen, Lohn- und Sozialdumping in der Realität zu unterbinden. Und ganz im Sinne des Arbeitsprogrammes der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, die Sicherung „fairer Arbeitsbedingungen“ verspricht.

Das Ende des Rahmenabkommens

Die Beziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union sind im Moment über ein Vertragsnetzwerk, bestehend aus rund 20 bilateralen über 100 weiteren Abkommen, geregelt. Ein Rahmenabkommen sollte diese zersplitterte Rechtslage zusammenführen und festlegen, wie künftige Änderungen des europäischen Rechts übernommen werden sollen. Anstatt die Verträge jeweils punktuell neu zu verhandeln, sollte das EU-Recht von der Schweiz dynamisch übernommen werden.

Noch 2020 bewertete der Schweizer Bundestag das Abkommen „insgesamt positiv“. Dennoch überwogen am Ende die Gegenargumente. Es wurde der Abbau des sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzes durch Lohndumping und Schwarzarbeit bei Entsendung ausländischer Beschäftigter befürchtet. Denn ein ambitioniertes europäisches Regelwerk zur Kontrolle, Verfolgung und Bestrafung von Schwarzarbeit fehlt derzeit. Mangels solcher Harmonisierung sollte vielmehr die Schweiz ihre „flankierenden Maßnahmen“ einschränken oder abschaffen. Gleichzeitig hätte der Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Auslegungskompetenz für das Abkommen erhalten. Wegen der negativen Erfahrungen mit EuGH-Urteilen zum Vorrang der Dienstleistungsfreiheit, weshalb nationalen Schutzgesetze gegen Schwarzarbeit und Lohndumping aufgehoben werden mussten (bspw. Fälle Čepelnik, Maksimovic, Dobersberger), wuchsen die Vorbehalte im Schweizer Parlament und bei den Schweizer Gewerkschaften.

Der Bundesrat entschied am 26. Mai 2021, das fertig ausgehandelte Abkommen nicht zu unterzeichnen, da es bedeutende Unterschiede in der Auslegung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zwischen der EU und der Schweiz gab: „Nach Ansicht der Schweiz dient das Prinzip primär dem Arbeitnehmerschutz. Für die EU steht hingegen auch der Schutz des Arbeitsmarkts vor allfälligen Wettbewerbsverzerrungen im Vordergrund“ (Pressetext Bundesrat, 26.05.2021). Die EU-Kommission scheint hingegen die konsequente Durchsetzung und Kontrolle der reformierten EU-Entsenderichtlinie weiterhin als „Wettbewerbsverzerrungen“, „administrative Barrieren“ oder „protektionistische Instrumente“ zu sehen.

Was sind die Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der Verhandlungen? Um fairen Wettbewerb im Binnenmarkt sicherzustellen, sind europäische und nationale Rechtsvorschriften mit abschreckender Strafen bei Nichteinhaltung von Mindestlöhnen und Kollektivverträgen, bei Einsatz von Modellen der Scheinselbständigkeit oder bei Schwarzarbeit notwendig. Die Entscheidung der Schweizer*innen sollte ein Weckruf für die EU sein, die Entsenderichtlinie mit ausreichenden europäischen Kontrollstandards durchzusetzen. Denn die Untergrabung des Lohn- und Sozialschutzes Land geht uns alle an. Wenn dies in einem Mitgliedstaat gelingt, dann öffnet es die Tür für die Schwächung des Schutzes in anderen Ländern. Deutschland hat diese erst jüngst in der Fleischindustrie erlebt, wo fehlende Kontrollen verheerende Wirkungen in der Corona-Pandemie verursachten.

Guter Sozialschutz – keine Protektionismus

Für die europäischen Gewerkschaften ist es wichtig, dass mobile Beschäftigte, die grenzüberschreitend arbeiten, nicht diskriminiert werden. Solche Diskriminierung und die Unterbietung des lokalen Lohnniveaus schafften Unfrieden zwischen den Beschäftigten und sind der Boden für die Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit. Die Botschaft ist bei den Europäischen Institutionen angekommen. In der Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte von 2017 wurden 20 Grundsätze als Richtschnur für ein starkes soziales Europa, das gerecht und inklusiv ist und Chancen für alle bietet, festgelegt. Bei der jetzt anstehenden Umsetzung muss es gelingen, unternehmerische bzw. wirtschaftliche Grundfreiheiten und den Schutz mobiler Beschäftigter in Europa in Einklang zu bringen.

Ein konkreter Fortschritt ist die reformierte Entsenderichtlinie, die nunmehr einen Anspruch auf alle Lohnbestandteile gemäß nationalem Recht bzw. Kollektivvertrag im Empfangsstaat einräumt. Damit dieses Recht nicht nur auf dem Papier steht, braucht es entsprechende europäische Durchsetzungsvorschriften. Eine solche Nachjustierung ist unter dem Titel „faire Arbeitsbedingungen“ und „Sozialschutz“ in der Europäischen Säule sozialer Rechte bereits angesprochen. Vorbild könnten das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz Österreichs, der französische Erlass vom 4. Juni 2019 betreffend Verpflichtungen des Arbeitgebers von entsendeten Arbeitnehmern oder eben die Schweizer „flankierenden Maßnahmen“ sein. Ergänzend müssen sozialversicherungsfreie Beschäftigungszeiten durch eine europäische Regelung abgeschafft und ein EU-weites Echtzeitregister zur elektronischen Erfassung des Sozialversicherungsstatus von grenzüberschreitend tätigen Beschäftigten eingerichtet werden. Dadurch können zuständige nationale Arbeitsbehörden im Zusammenspiel mit der neu eingerichteten Europäischen Arbeitsbehörde effizient und schnell Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit feststellen und unterbinden.

Damit würden Wettbewerbsverzerrungen durch Lohndumping auf dem Rücken der Beschäftigten beseitigt, die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit erhöht und wären Schutzbestimmungen wie in der Schweiz eine selbstverständliche Voraussetzung für jegliche Annäherung an die Europäische Union, vom Rahmenabkommen bis zur Mitgliedschaft. Der EU-Dialogprozess im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas, in den alle europäischen Bürger*innen ein Jahr lang aktiv ihre Ideen einbringen können, ist eine wichtige Gelegenheit für die Gewerkschaften aufzuzeigen, was aus Sicht der Beschäftigten fehlt, um Sozial- und Arbeitsrechte im Europäischen Binnenmarkt zu sichern und zu stärken.


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