Deutscher Gewerkschaftsbund

20.09.2022

Ukraine: Angriff auf Arbeitnehmer*innen im Schatten des Krieges

von Eric Balthasar, DGB

In der Ukraine wütet seit mehr als einem halben Jahr der völkerrechtswidrige Angriffskrieg des russischen Regimes. Viele Ukrainer*innen leiden nicht nur unter den direkten Kriegsgeschehnissen, sondern auch unter der vom Krieg ausgelösten wirtschaftlichen Krise. In den letzten Wochen stimmte das Parlament einer Reihe von Arbeitsgesetzen zu, die weitere schwerwiegende Auswirkungen auf Arbeitnehmer*innen haben werden, sollte Präsident Selenskyj kein Veto einlegen. Ein Angriff der neoliberalen Kräfte im ukrainischen Parlament auf Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaftsrechte, der für einen EU-Beitrittskandidaten indiskutabel sein sollte.

Flagge Ukraine

DGB/millenius/123rf.com

Internationale Arbeitsstandards nicht umgesetzt

Die Rechte von Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften geraten seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 fortwährend in Bedrängnis. Im Parlament kleidet man sich gern in Worte wie Liberalisierung, Deregulierung, Entbürokratisierung und Optimierung. Soziale Gerechtigkeit, sozialer Dialog, menschenwürdige Arbeit oder Gleichheit sind von den neoliberalen Parlamentarier*innen als sowjetische Anachronismen aus der sozioökonomischen Landschaft der Ukraine verbannt. Gegen die ökonomischen Missstände und die hohe Einkommensungleichheit der Ukraine gibt es für sie nur eine Lösung: Liberalisierung.

Ungeachtet der wirtschaftspolitischen Einstellungen im ukrainischen Parlament hätte die Ukraine gemäß des 2014 unterzeichneten Assoziierungsabkommens mit der EU, das eine vertiefte und umfassende Freihandelszone umfasst, internationale Arbeitsstandards umsetzen müssen. Allerdings wurden die vom Unterausschuss EU-Ukraine für Handel und nachhaltige Entwicklung benannten Lücken von der Ukraine nicht geschlossen. Vielmehr zeigten Initiativen der Regierung und der Mehrheitspartei im Parlament, dass die Verpflichtungen nicht eingehalten werden und eine libertäre Wirtschaftspolitik in der Ukraine weiterverfolgt wird.

Arbeit unter Kriegsrecht

Heute tobt der Krieg in der Ukraine. Er stellt unwidersprochen eine Krisensituation dar, unter der auch die Arbeitsbeziehungen anders organisiert werden können, um im Fall der Ukraine das staatliche Überleben zu sichern. Die Gesetze Nr. 2136 und Nr. 7251 regeln die Organisation der Arbeitsbeziehungen unter Kriegsrecht. Dennoch darf die Ukraine als Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht willkürlich agieren. Die ILO Empfehlung 205 gibt Leitlinien vor, die menschenwürdige Arbeit in Krisensituationen infolge von Konflikten und Katastrophen sicherstellen. Die Reaktionen des ILO-Mitglieds sollen die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, sonstige Menschenrechte und sonstige relevante internationale Arbeitsnormen achten. Entgegen dieser Empfehlung verstößt das Gesetz Nr. 2136 gegen das ILO Übereinkommen 98, Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen, indem Unternehmen erlaubt wird, bestimmte Regelungen von Tarifverträgen einseitig auszusetzen.

Der Krieg als zynische Gelegenheit

Die politischen Opportunisten im ukrainischen Parlament überschreiten im Schatten des Krieges unverblümt weitere rote Linien, da der Ausnahmezustand den Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften die Möglichkeit nimmt öffentlich gegen die Zerstörung von Rechten zu mobilisieren. Sharan Burrow, Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), nennt die Geschehnisse grotesk. Die ukrainischen Arbeitnehmer*innen, die ihr Land verteidigen und sich um Verletzte, Kranke und Vertriebene kümmern, werden von ihrem eigenen Parlament angegriffen. ILO, IGB und der EGB kritisieren das Vorgehen der Ukraine hinsichtlich der Arbeitsgesetzgebung.

Am 20. Juli verabschiedete das Parlament den Gesetzentwurf Nr. 5371, der bereits seit April 2021 vorlag. Der Gesetzentwurf wurde in weniger als 15 Minuten debattiert und durchgewunken, berichtet der Vorsitzende der Konföderation der freien Gewerkschaften der Ukraine (KVPU) und Parlamentarier Mykhailo Volynets. Das Gesetz schädigt die Rechte und Arbeitsbedingungen der ukrainischen Arbeitnehmer*innen grundlegend. Es schafft das Tarifverhandlungsrecht für Arbeitnehmer*innen in Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten ab. Zudem wird den Unternehmen gestattet, bestehende Tarifbestimmungen in Einzelarbeitsverträgen zu ignorieren. Somit ersetzt der Arbeitsvertrag das Arbeitsrecht für die große Mehrheit der ukrainischen Beschäftigten. Parlamentarier und Mitglieder Selenskyjs Partei wie Danylo Hetmantsev möchten weiter liberalisieren, denn sie sind überzeugt, dass individuell ausgehandelte Arbeitsverträge die Interessen von Unternehmen und Arbeitnehmer*innen gleichermaßen schützen. Eine irrwitzige Vorstellung, die vollends von Machtverhältnissen in Vertragsverhandlungen abstrahiert.

Einen Tag zuvor verabschiedete das Parlament den Gesetzentwurf Nr. 5161. Das Gesetz erlaubt die Beschäftigung von 10 Prozent der Belegschaft in sogenannten Null-Stunden-Verträgen mit einer monatlichen Mindestarbeitszeit von 32 Stunden und täglicher Arbeit auf Abruf. Darüber hinaus entbindet der verabschiedete Gesetzentwurf 7251 die Unternehmen von Lohnzahlungsverpflichtungen gegenüber Beschäftigten im Militärdienst. Nachdem diese auf den Staat übergingen, wurden die Löhne gekürzt.

Angriff auf ukrainische Gewerkschaften

Neben den arbeitsrechtlichen Änderungen geraten auch die ukrainischen Gewerkschaften unter Druck. In den letzten Jahrzehnten wurde wiederholt versucht, Gewerkschaftseigentum zu konfiszieren. Alle Justizbehörden, einschließlich des Obersten Gerichtshofs, haben diese Versuche jedoch zurückgewiesen. Gegenwärtig liegen dem Parlament die Gesetzesentwürfe Nr. 6420 und Nr. 6421 des Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung zur Prüfung vor. Die Entwürfe zielen darauf ab, Gewerkschaftseinrichtungen in staatliches Eigentum zu überführen. Laut Erklärung der Föderation der Gewerkschaften der Ukraine (FPU) sind die Entwürfe die Antwort auf die prinzipielle Haltung der Gewerkschaften, die sich gegen viele Gesetzesentwürfe zu Arbeitsbeziehungen aussprachen und weiterhin aussprechen, wenn die Rechte von Arbeitnehmer*innen eingeschränkt werden sollen. Nach einem aktuellen Rechtsgutachten des Parlaments bedarf mindestens der Gesetzentwurf Nr. 6420 erheblicher Überarbeitung. Für die ukrainische Öffentlichkeit bleibt trotzdem fragwürdig, dass sich das Parlament in Kriegszeiten der Regelung von Eigentumsrechten widmet.

EU-Beitrittskandidat Ukraine

Im Juni 2022 entschloss sich die EU dazu, der Ukraine die volle Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Die Ukraine hat seitdem offiziell den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Dabei ist der Fortschritt der Ukraine auf dem Weg in die EU von der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien abhängig. Die Kopenhagener Kriterien umfassen den Schutz der Arbeitnehmer*innen, also die Angleichung des Arbeitsgesetzes der Ukraine an die Regularien der EU.

Das Schleifen von Arbeitnehmer*innen- und Gewerkschaftsrecht unter Ausnutzung des Kriegsrechts ist inakzeptabel für einen Beitrittskandidaten der EU. Die ukrainischen Gewerkschaften können in Zusammenarbeit mit dem DGB und anderen internationalen Partnern den Beitrittsstatus der Ukraine nutzen, um ein progressives Arbeitsrecht in der Ukraine zu etablieren.


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