Aus Sicht von Arbeitsplatzsuchenden ist es eher zufällig, ob Unfallversicherungsschutz besteht, wenn sie während eines „Kennenlern-Praktikums“ verunfallen. Mit seinem Urteil vom 31.03.2022 – B 2 U 13/20 R hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass eine Arbeitsplatzbewerberin bei einem Kennenlern-Praktikum gesetzlich unfallversichert ist.
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Die seinerzeit 45-jährige Klägerin war zum Zeitpunkt des Unfalls wenige Wochen im Arbeitslosengeld-I-Bezug gewesen. Sie hatte sich eigeninitiativ auf eine Ausschreibung für die IT-Abteilung mit Kenntnissen in einem Spezialgebiet, in dem sie über langjährige Erfahrung verfügt, beworben. Kurz vor dem Abschluss des Arbeitsvertrages absolvierte sie in der Firma ein Kennenlern-Praktikum. Nach einem 2-stündigen fachlichen Gespräch zum Abschluss des Praktikumstags wurde ein neuer Betriebsteil besichtigt. Dort stürzte die Klägerin und erlitt einen Bruch im Ellenbogenbereich. Diesen Unfall erkannte die zuständige Berufsgenossenschaft nicht als Arbeitsunfall an. Die Klägerin wurde von der Firma eingestellt.
Die Klägerin hat gegen den abweisenden Bescheid der Berufsgenossenschaft geklagt. Während in der 1. und 2. Instanz ihr Begehren zurückgewiesen wurde, hatte sie in der 3. Instanz vor dem Bundessozialgericht Erfolg: Ihr Unfall war ein Arbeitsunfall.
Das Problem – und darum hatten die beiden ersten Instanzen nicht der Klägerin, sondern der Berufsgenossenschaft Recht gegeben, das BSG schließlich aber zugunsten der Klägerin entschieden – ist darin zu finden, dass der Fall eines „Praktikums“ als unfallversicherte Tätigkeit im Gesetz nicht erfasst ist.
Das zeigt, dass es viele Abgrenzungsfragen gibt, die es verbieten, einen sehr allgemein gefassten gesetzlichen Unfallversicherungsschutz (GUV) zu normieren. Das zeigt aber auch, dass durch die Rechtsprechung manche Lebenssachverhalte, die eng am Berufsleben stehen, als unfallversichert angesehen werden, andere aber nicht.
Im o.a. Fall hatte die Klägerin Glück. Zum einen hatte die Berufsgenossenschaft eine Satzung, die u.a. bestimmt: "Personen, die nicht im Unternehmen beschäftigt sind, aber als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Besichtigungen des Unternehmens oder als Praktikantinnen und Praktikanten die Stätte des Unternehmens im Auftrag oder mit Zustimmung des Unternehmens aufsuchen oder auf ihr verkehren, sind während ihres Aufenthalts auf der Stätte des Unternehmens gegen die ihnen hierbei zustoßenden Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten beitragsfrei versichert, soweit sie nicht schon nach anderen Vorschriften versichert sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII)".
Zum anderen hatte die Klägerin Glück, dass das BSG in Abwägung unterschiedlicher Interessen der Auffassung war, dass unter die o.a. Formulierung in der Satzung auch der Fall der Klägerin zu fassen ist und dass die Satzung dem Gesetz hier vorgeht. Die Vorinstanzen hatten gemeint, dass jedwede Tätigkeit, um unfallversichert zu sein, für den Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Wert haben müsse – und ein Praktikum habe diesen materiell nicht.
Gleichwohl ist die rechtliche Situation unbefriedigend: Es ist – aus Sicht der betroffenen Person, die sich eigeninitiativ um eine Stelle bemüht – Zufall, ob eine Satzung einer Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse den Unfallversicherungsschutz erweitert oder nicht; ebenso ist es „zufällig“, ob die Arbeitsstelle, die angestrebt wird, in die Zuständigkeit einer Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse fällt, die eine solche Satzungsregelung hat. So lässt sich DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel nur zustimmen, wenn sie sagt: „Zum Arbeitsleben gehört eben auch die Anbahnung eines Anstellungsverhältnisses. Unfallversicherung darf nicht davon abhängen, welchen wirtschaftlichen Wert die Beschäftigung zum Unfallzeitpunkt hat.“