Deutscher Gewerkschaftsbund

02.07.2021

Rechtsbrüche und Reformstau: Zum Stand der Pflege nach der BAG-Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht hat eine richtungsweisende Entscheidung getroffen: Auch für entsandte Beschäftigte in der häuslichen Seniorenbetreuung ist der deutsche gesetzliche Mindestlohn zu zahlen– und zwar auch für Bereitschaftszeiten. Dieser wichtige Erfolg gegen das Ausbeutungsmodell „24-Stunden-Pflege“ zeigt zugleich den Abgrund hinter dem Reformstau in der Pflege.

Ältere Dame im Rollstuhl mit weiblicher Pflegekraft

DGB/Alexander Raths/123RF.com

Es war ein Knall, der in nahezu allen Medien nachhallte: Am 24.06. urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG), dass der gesetzliche Mindestlohn auch für die vielen häuslichen Betreuungskräfte gilt, die aus anderen EU-Staaten zum Arbeiten nach Deutschland kommen, und stellt klar, dass der gesetzliche Mindestlohn auch für die Bereitschaftszeiten anzuwenden ist. Damit setzt das BAG ein Fanal für die häusliche Betreuung und Pflege, in dem unter dem Begriff der „24-Stunden-Pflege“ systematisch die Schutzrechte der Beschäftigten bei Lohn und Arbeitszeiten umgangen werden.

Rechtsbruch mit System

Bereits aus dem Versprechen einer 24-Stunden-Betreuung durch eine einzige Person folgt unausweichlich der Bruch geltender Arbeitsgesetze. Im Wesentlichen beruht das Modell der häuslichen „24-Stunden-Pflege“ darauf, dass nur ein Bruchteil der Arbeitszeit vergütet wird, die tatsächlich notwendig ist, um das den Kund*innen gegenüber abgegebene Versprechen einer Pflege rund um die Uhr auch tatsächlich zu gewährleisten. Die „Rund-um-Sorglos-Pflege“ geht damit erheblich zu Lasten der Beschäftigten.

Die Profite, die Vermittlungsagenturen und andere beteiligte Unternehmen so erzielen, beruhen vor allem auf dem Kalkül, dass die zumeist osteuropäischen Pflegekräfte ihre Rechte nicht einklagen. Mit gewerkschaftlicher Unterstützung ist es nun allerdings einer Klägerin bis in die letzte Instanz gelungen, ihre Rechte durchzusetzen. Das Urteil des BAGs schafft zugleich Rechtssicherheit für andere Betroffene, die gegen die Ausbeutungspraxis gerichtlich vorgehen und den ihnen zustehenden Lohn für die tatsächlichen Arbeitszeiten inklusive Bereitschaftszeiten einklagen wollen. Damit steht nicht weniger als das gesamte Geschäftsmodell „24-Stunden-Pflege“ in Frage, denn die rechtskonforme Vergütung der vollen Arbeitszeit können sich die meisten Pflegebedürftigen kaum leisten.

Reformstau begünstigt Rechtsbrüche

Zur ganzen Wahrheit gehört jedoch auch: Das BAG-Urteil allein wird illegale Praxen in der Pflege nicht beenden, auch wenn die Aussicht auf einklagbare Lohnnachzahlungen diese unattraktiver macht. Denn Fakt ist: Durch das Ausbleiben einer echten Pflegereform ist Pflege für viele weiterhin kaum bezahlbar. Der Reformstau in der Pflege produziert damit eine kontinuierliche Nachfrage nach irgendwie bezahlbarer Pflege, bei der als letzter Ausweg dann auch Illegalität in Kauf genommen wird. Genau das nutzen Unternehmer aus, um aus dieser Nachfrage dann auf Kosten der Pflegekräfte Profit generieren zu können. Dabei kapitalisieren sie letztlich die große soziale wie ökonomische Ungleichheit innerhalb der EU, durch die sie immer noch Menschen, für die selbst Arbeitsverhältnisse weit unter dem deutschen Lohn- und Schutzniveau noch hinreichend attraktiv sind.

Von Seiten der Politik wird dieses System billigend im Kauf genommen. Als Reaktion auf das Urteil hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn etwa mit Verweis auf das sogenannte österreichische Modell gefordert, Teile der illegalen Praxen nachträglich zu legalisieren, indem entsprechende Ausnahmen von Lohn- und Schutzstandards geschaffen werden. Solchen diskriminierenden Strategien stellt sich der DGB entschlossen entgegen. Dahinter steckt der Versuch, die Pflegekrise auf dem Rücken der Beschäftigten zu lösen, im Fall der „24-Stunden-Pflege“ insbesondere auf dem von nicht-deutschen Staatsbürger*innen. Solche Forderungen liegen in einer Linie mit dem Versuch, den Pflegenotstand durch die systematische Überlastung der Beschäftigten in der Pflege zu lösen. Es ist bezeichnend, dass gerade Jens Spahn, der eine echte Pflegereform mit wirklichen Verbesserungen für Pflegebedürftige und Pflegende schuldig geblieben ist, einen solchen Vorschlag unterbreitet.

Nach der Wahl ist vor der Reform

Das Ausbleiben einer wirklichen Pflegereform wird die nächste Bundesregierung schleunigst aufholen müssen. Die Pflege in Deutschland steht sonst vor dem Kollaps, das zeigt auch der Blick auf illegale Ausbeutungsstrategien. Pflege in Deutschland muss bezahlbar und für alle verfügbar sein, die sie brauchen. Dazu sind gute Arbeitsbedingungen in der Pflege alternativlos: Sie schaffen einen notwendigen Anreiz, um mehr Personal für die Pflege zu gewinnen und sorgen zugleich für eine gute Pflegequalität. Und natürlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass auch Pflegekräfte ein Recht auf gute Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten haben. Kurzum: Das Ausspielen von Pflegekräften und Pflegebedürftigen gegeneinander muss ein Ende haben. Mit der Pflegebürgervollversicherung liegt längst ein solides Konzept vor, durch das gute und bezahlbare Pflege für alle, die sie brauchen, bei guten Arbeitsbedingungen nachhaltig und solidarisch finanziert werden kann. In der Konsequenz zeigt das BAG-Urteil damit also zweierlei: wie dringend notwendig eine echte Pflegereform auch nach der Wahl bleibt; und wie erfolgreich gewerkschaftliche Unterstützung bei der Durchsetzungen von Rechten ist.

Zusätzlich zu den Pflegeleistungen bestehen in vielen Senior*innenaushalten auch Bedarfe an hauswirtschaftlicher Unterstützung. Um diese zu ermitteln, mit den Pflegedienstleistungen zu koordinieren und entsprechende Angebote machen zu können, braucht es dringend bundesweite Beratungs- und Versorgungsstrukturen. Für die Finanzierung Guter Arbeit in haushaltsnahen Dienstleistungen schlägt der DGB eine steuerliche Bezuschussung vor.


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