Derzeit wird auf europäischer Ebene über die Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen in der europäischen Union verhandelt. Die EU-Kommission hatte diese vorgelegt. Sie bietet die Chance, für Millionen von Beschäftigten in der EU armutsfeste Löhne zu verankern und Tarifverträge zu stärken. Im Folgenden wird auf wichtige Punkte des Richtlinienentwurfs und seiner möglichen Wirkungen eingegangen.
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Untersuchungen über die Auswirkungen von Mindestlohnerhöhungen haben keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung oder die Wettbewerbsfähigkeit gezeigt. In Deutschland beispielsweise ist die Beschäftigung seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 sogar gestiegen. Vor allem reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wurde geschaffen. Auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es zwischen Mindestlohn und Beschäftigungsentwicklung keinen negativen Zusammenhang gibt.
Die Einführung fairer gesetzlicher Mindestlöhne würde der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wirtschaftswachstum nicht nur nicht schaden, sondern das Wirtschaftswachstum sogar ankurbeln. Dies ist zur Überwindung der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid19-Pandemie wichtiger denn je.
Höhere gesetzliche Mindestlöhne würden gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Fair entlohnende Arbeitgeber*innen würden vor Dumpinglohn-Arbeitgeber*innen geschützt. Der Wettbewerb würde daher nicht über die Löhne, sondern über die Qualität, Service und Produktvielfalt geführt – eine Entwicklung, die den Fokus auf innovative Produkte und Dienstleistungen verlagern und die europäische Wirtschaft dadurch insgesamt voranbringen würde.
Außerdem: Die meisten Mindestlohnbeschäftigten sind in Dienstleistungsbranchen tätig, die nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind und deren Dienstleistungen innerhalb lokaler Märkte erbracht werden. Faire Mindestlöhne würden die Binnennachfrage innerhalb der EU ankurbeln. Vor allem Beschäftigte im Niedriglohnbereich geben das zusätzliche Einkommen aufgrund der äußerst niedrigen Sparquote zu nahezu 100 Prozent aus. Zusätzlich würden Mindestlöhne auch die allgemeine Lohnentwicklung beeinflussen, was ihre positive Wirkung auf die Binnennachfrage und das Wirtschaftswachstum verstärkt.
Zusätzlich sind Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen notwendig, weil faire Mindestlöhne nur in Arbeitsmärkten mit lebendigen Tarifverhandlungen zustande kommen, die das gesamte Lohngefüge anheben. Lohnerhöhungen durch höhere Mindestlöhne und stärkere Tarifverhandlungen, insbesondere auf sektoraler Ebene, würden die Binnennachfrage und damit das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Wir brauchen eine Stärkung der Tarifbindung auch deshalb, da Mindestlöhne nur den untersten Lohn regeln, nicht aber andere wichtige Aspekte wie u.a. Lohn- und Gehaltsgruppen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und die Arbeitszeit.
In Deutschland hat sich gezeigt, dass Langzeitarbeitslose – obwohl für sie in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung kein Anspruch auf Mindestlohn besteht – nicht verstärkt eingestellt wurden. Die Höhe der Bezahlung ist daher kein Grund, dass Langzeitarbeitslose nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Offensichtlich spielen bei der Einstellung von Arbeitskräften die Arbeitskosten für die Arbeitgeber*innen gegenüber zum Beispiel der Qualifikation eine untergeordnete Rolle. Dies wiederum zeigt, dass die Unterstützung bei der Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen vielmehr mit Hilfe von Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen erfolgen sollte als über nicht zielorientierte angebotsseitige Maßnahmen.
Bei den Löhnen, insbesondere bei den Armutslöhnen, wird die Situation immer schlechter. Fast jeder zehnte Arbeitnehmer in der EU27 ist von Armut bedroht! Und ihr Anteil ist im letzten Jahrzehnt gestiegen. Insgesamt berichten 7 von 10 Mindestlohnbeschäftigten, dass sie Schwierigkeiten haben, finanziell über die Runden zu kommen. Gleichzeitig ist die Zahl der Arbeitnehmer*innen, die unter einen Tarifvertrag fallen, in 22 der 27 EU-Mitgliedstaaten rückläufig. In Deutschland zum Beispiel sank die Tarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland von 76 Prozent im Jahr 1998 auf 53 Prozent im Jahr 2020 und in Ostdeutschland von 63 Prozent im Jahr 1998 auf 43 Prozent in 2020.
Die kontinuierliche Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ist ein maßgebliches Ziel der EU. Ein Nichthandeln würde daher bedeuten, dass die Ziele und Verpflichtungen des Vertrages verleugnet werden und den Mitgliedstaaten ein Wettlauf nach unten bei Armutslöhnen und der Nichteinhaltung von Tarifverträgen ermöglicht wird.
Diese beiden Parameter sind in der Armutsforschung bereits seit Langem anerkannt, um armutsfeste Mindestlöhne zu definieren. Für 60 Prozent des Brutto-Medianlohns etwa gilt: Ab diesem Niveau können Löhne nach Ansicht von Armutsforscher*innen als „existenzsichernd“ gelten, weil Alleinstehende dann in der Regel ohne staatliche Transfers und Unterstützung von ihrer Arbeit leben können. Folglich sinkt damit auch das Risiko, in Altersarmut trotz Arbeit zu geraten. Auch die EU-Kommission spricht sich in Erwägungsgrund 21 des Richtlinienentwurfs dafür aus, diese beiden Parameter als Orientierungsgröße anzusetzen.
Würde die Richtlinie - wie von der Kommission in Artikel 5 zur Angemessenheit vorgesehen - umgesetzt, müsste die deutsche Bundesregierung die in Artikel 5 genannten Kriterien national konkretisieren. Sie müsste dabei zwingend die folgenden Kriterien berücksichtigen:
Des Weiteren müsste sie auf internationaler Ebene übliche Richtwerte zugrunde legen, die die gesetzlichen Mindestlöhne in Relation zum allgemeinen Niveau der Bruttolöhne setzen. Als „Richtschnur“ für das Verhältnis des Mindestlohns zum Bruttolohn sollen nach Erwägungsgrund 21 die Indikatoren wie etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns herangezogen werden.
Die deutsche Bundesregierung hätte daher Spielraum für die Festlegung der Angemessenheit, da es an konkreten Vorgaben fehlt. Der deutsche Mindestlohn würde daher aufgrund der EU-Richtlinie nicht automatisch auf 12 Euro angehoben.
Gerade deshalb ist es nötig, dass die Richtlinie an dieser Stelle nachgeschärft wird: 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns sollten als untere Schwelle festgeschrieben werden, um eine effektive Regelung europaweit sicherzustellen. 60 Prozent des Bruttomedianlohns in Deutschland würden dabei in etwa 12 Euro entsprechen. Bis zu 10 Millionen Beschäftigte in Deutschland würden dann von höheren Löhnen profitieren. Der DGB fordert die Erhöhung auf 12 Euro schon seit längerer Zeit, um „Arm trotz Arbeit“ zu verhindern. Europa muss endlich sein soziales Gesicht zeigen.
Die Richtlinie würde nur die Angemessenheit des nationalen gesetzlichen Mindestlohns über den doppelten Schwellenwert festlegen, unter der kein deutscher Mindestlohn mehr liegen darf. Der nationale Mindestlohn ist dadurch aber noch nicht festgelegt. Das wird weiterhin die Aufgabe der Mindestlohnkommission sein. Nur das Ausgangsniveau würde verändert. Es bleibt mit dieser Vorgabe weiterhin Aufgabe der Mindestlohnkommission, die Festsetzung durch Gesamtabwägung und Orientierung nachlaufend zur Tarifentwicklung zu treffen. Kurzum: Nach einem einmaligen Anpassungsschritt könnte die Mindestlohnkommission in bewährter Weise ihre Arbeit fortsetzen.
Über die Entscheidung der Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns hinaus bestehen weitere Aufgaben der Mindestlohnkommission fort: Sie beauftragt umfangreiche Forschung in dem noch jungen Wissenschaftsgebiet und beurteilt im Rahmen ihres Gesetzesauftrags in regelmäßigen Abständen die Angemessenheit des gesetzlichen Mindestlohns, die Auswirkungen auf Beschäftigung, Wettbewerb und Wirtschaft.
Leider sinkt die Tarifbindung, also die Anzahl derjenigen Arbeitnehmer*innen, für die ein Tarifvertrag gilt, seit Jahren in der EU. Tarifverträge stehen aber für höhere Löhne, eine geringere Arbeitszeit, ein geringeres Gefälle zwischen der Entlohnung von Frauen und Männern, um nur einige Vorteile von Tarifverträgen zu nennen. Durch höhere Löhne sorgen Tarifverträge für höhere Steuereinnahmen und höhere Einzahlungen in die Sozialversicherungen und tragen unter anderem dadurch dazu bei, dass der Staat handlungsfähig bleibt.
Insofern begrüßt der DGB, dass die EU-Kommission in Artikel 4 des Richtlinienentwurfs regelt, dass bei einer Tarifbindung unter 70 Prozent nationale Aktionspläne zur Steigerung der Tarifbindung erstellt werden müssen. Sozialpartner müssen durch gesetzliche oder staatlich unterstützte Maßnahmen beim Abschluss von Tarifverträgen gestärkt werden, und die Tarifbindung muss ansteigen. Der DGB hat hierzu bereits eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht. Dazu gehören die Erleichterung des Verfahrens zur Allgemeinverbindlicherklärung geltender Tarifverträge sowie die Erstreckung regional allgemeinverbindlicher Tarife auf Entsendefirmen. Es muss ein Bundestariftreuegesetz geschaffen werden, damit Tariftreue von Unternehmen neben weiteren sozialen Kriterien wie Ausbildungsquoten zur Voraussetzung für die öffentliche Auftragsvergabe und die Bewilligung staatlicher Fördermittel wird. Außerdem muss die sogenannte „Ohne-Tarif“-Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden als Instrument zur Umgehung von Tarifschutz abgeschafft werden.
Weiterführende Forderungen sind im DGB-Positionspapier zur Stärkung der Tarifbindung zu finden:
Wie von der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission wiederholt betont, ist eine "Konvergenz der Löhne nach oben" für das Funktionieren des Binnenmarktes und für die Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas dringend erforderlich. Zu einer Lohnkonvergenz auf EU-Ebene haben sich im Übrigen die drei EU-Institutionen (Parlament, Rat und Kommission) anlässlich der feierlichen Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte mit dem dort enthaltenen 6. Grundsatz verpflichtet.
Die Lohnspreizung hat sich in der Zeit bis 2008 verringert, aber dieser Trend hat sich in den letzten Jahren verlangsamt. Um die Kluft zu verringern, müssen sektorale Tarifverhandlungen gestärkt und gefördert werden, um eine allgemeine Erhöhung der Löhne, einschließlich der Mindestlöhne, zu gewährleisten. Höhere Löhne sind auch notwendig, um qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitskräfte in Mittel- und Osteuropa zu halten und die Abwanderung von Fachkräften zu stoppen. Deshalb sind auch die Bestimmungen in der Richtlinie zur Unterstützung von Tarifverhandlungen von größter Bedeutung.
Mehr als 25 Millionen Beschäftigte mit niedrigen Löhnen in der EU würden eine dringend benötigte Lohnerhöhung erhalten, wenn die Vorschläge der Gewerkschaften für die Richtlinie angenommen werden. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) kommt in seiner Analyse zu diesem Ergebnis (WSI-Mindestlohnbericht 2021 „Ist Europa auf dem Weg zu angemessenen Mindestlöhnen?“, Februar 2021). Der DGB drängt darauf, dass eine "Anstandsschwelle" in die Richtlinie aufgenommen wird, die sicherstellt, dass keine gesetzlichen Mindestlöhne unter 60 Prozent des Medianlohns und 50 Prozent des Durchschnittslohns im jeweiligen Mitgliedsstaat gezahlt werden. Allein in Deutschland würde ein Mindestlohn von 12 Euro zusätzliche Kaufkraft von mehreren Milliarden Euro für die Beschäftigten bedeuten.
Viele in der Covid 19-Pandemie als systemrelevant anerkannte Arbeitskräfte, wie Pflegekräfte, Reinigungskräfte, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Landarbeiter, verdienen in ihrem EU-Staat nur den Mindestlohn. Laut der Analyse der Kommission sind vor allem Frauen, junge und gering qualifizierte Arbeitnehmer*innen, Alleinerziehende sowie Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen von Niedriglöhnen betroffen.
So führt die Kommission aus, dass Frauen die Mehrheit der Mindestlohnempfänger in allen Mitgliedsstaaten darstelle und die Wahrscheinlichkeit, ein Mindestlohnempfänger in Tschechien, Deutschland, Frankreich, Kroatien, den Niederlanden und der Slowakei zu sein, für Frauen doppelt so hoch ist. Die Folgenabschätzung der Kommission stellt auch fest, dass das Lohngefälle bei den Durchschnittslöhnen zwischen Männern und Frauen in allen EU-Ländern abnimmt, wenn der Mindestlohn steigt. Somit bewirken Mindestlöhne eine schrittweise Verkleinerung des Gender Pay Gaps.
Die Richtlinie muss die Mitgliedstaaten verpflichten, Ausschlüsse von gesetzlichen Mindestlöhnen, Unterschreitungen von Mindestlöhnen und Abzügen zu beenden. Um die Angemessenheit der Mindestlöhne für alle Gruppen von Beschäftigten zu fördern, verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, in Absprache mit den Sozialpartnern sowohl die Anwendung von gesetzlichen Mindestlohnabweichungen zu begrenzen als auch vor ungerechtfertigten oder unverhältnismäßigen Abweichungen oder Abzügen zu schützen.
Der Juristische Dienst des Rates schlägt in seinem Rechtsgutachten vor, diese Bestimmung entweder zu ändern, um ihre Wirksamkeit zu begrenzen, oder sie ganz zu streichen. Dies ist rechtlich unnötig und politisch inakzeptabel. Artikel 6 muss zukünftig verbieten,
Denn bereits heute stellt sich die Lage so dar, dass 14 Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten, die Abweichungen bei den (Mindest-)Löhnen für junge Arbeitnehmer*innen zulassen, gegen die Europäische Sozialcharta des Europarats verstoßen haben, da die Löhne, die diesen Arbeitnehmer*innen gezahlt werden, ungerecht und unzureichend sind.
Für Deutschland bedeutet das konkret: Die bestehenden Ausnahmen vom Mindestlohnschutz für Langzeitarbeitslose, Jugendliche unter 18 ohne Berufsausbildung und freiwillige Praktika während der Ausbildung bzw. des Studiums müssen abgeschafft werden. Sie sind nicht nur verfassungswidrig, sondern sorgen auch für Rechtsunsicherheit und diskriminiert die Betroffenen. Des Weiteren muss der Mindestlohn in Deutschland in Zukunft auch für arbeitnehmerähnliche Personen gelten, also für Personen, die keine Arbeitnehmer*innen sind, aber für andere in wirtschaftlich abhängiger Stellung Arbeit leisten und einem/r Arbeitnehmer*in vergleichbar sozial schutzbedürftig sind, wie zum Beispiel in Heimarbeit Beschäftigte.
Der Juristische Dienst des Rates ist der Ansicht, dass Artikel 9 zur öffentlichen Auftragsvergabe nicht beabsichtigt, neue Verpflichtungen zu schaffen, die über die im bestehenden EU-Besitzstand enthaltenen hinausgehen, und dass er lediglich "deklaratorisch" ist. Für den DGB ist jedoch klar, dass Artikel 9 die Bedeutung der bestehenden Bestimmungen (insbesondere der Vergaberichtlinie 2014/24/EU) verbindlich festlegt und neue Anforderungen hinzufügen kann. Durch die Klarstellung und den ausdrücklichen Verweis auf diese Richtlinie soll deren Umsetzung im Bereich der Mindestlöhne und Tarifverhandlungen unterstützt und gestärkt werden. Artikel 9 sollte daher nicht nur beibehalten, sondern durch die Aufnahme konkreter Verweise auf das Recht auf Kollektivverhandlungen und das Recht, sich zu organisieren, ergänzt werden.
Die Regelungen des Richtlinienentwurfs führen im Anwendungsbereich der Richtlinie zu einer Stärkung der nationalen Systeme. Durch die Richtlinie sollen auf der anderen Seite gerade diejenigen Mitgliedstaaten, die hohe Tarifabdeckungen aufweisen und keinen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben, nicht gleichermaßen verpflichtet werden. So sieht Artikel 1 Absatz 3 des Richtlinienentwurfs vor, dass Mitgliedstaaten, in denen der Mindestlohnschutz ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, weder zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns noch zur flächendeckenden Einführung von Tarifverträgen verpflichtet werden dürfen. Im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten sollen bestehende Systeme gestärkt und Beschäftigten, insbesondere am unteren Rand der Lohnskala, durch die Richtlinie armutsfeste Löhne gesichert werden.
Nach Artikel 153 Absatz 5 AEUV hat die EU keine Kompetenz zur Regelung des Arbeitsentgelts. Allerdings untersagt diese Regelung nur die direkte Lohnfestsetzung durch die EU. Der Richtlinienentwurf enthält in Artikel 5 zur Angemessenheit und in Erwägungsgrund 21 jedoch nur eine Vielzahl von Kriterien, die von jedem Mitgliedstaat in freiem Ermessen zur Bestimmung der Angemessenheit festgeschrieben werden können. Artikel 5 bestimmt nur eine Angemessenheitsschwelle, unter der nationale Mindestlöhne nicht liegen dürfen. Mitgliedsstaaten können, ja müssen ihre nationalen Mindestlöhne selbst festlegen, da dies durch die Richtlinienregelung nicht erfolgt. Insofern legt die EU die Mindestlohnhöhe gerade nicht unmittelbar fest, was verboten wäre, sondern wirkt nur mittelbar auf das Entgelt ein, was erlaubt ist.
Es gibt bereits viele Beispiele für derartige mittelbare Eingriffe in die Lohnfestsetzung durch das EU-Recht, u.a. zum Mutterschutz, zum Jahresurlaub und betreffend die Entsendung von Beschäftigten. Durch den Europäischen Gerichtshof wurde die Rechtmäßigkeit dieser Regelungen mehrfach bestätigt und eine enge Auslegung der Bereichsausnahme des Artikels 153 Absatz 5 AEUV angemahnt. Nähere Informationen hierzu können im Rechtsgutachten von Professor Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer nachgelesen werden:
Ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip liegt nicht vor. Zu diesem Ergebnis kam 2020 auch der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages.
Aus dem Subsidiaritätsprinzip leiten sich nach Art 5 EU-V die Schranken der Unionskompetenz ab. Die konkrete Ausformung des Subsidiaritätsprinzips findet sich in den besonderen Regelungen der einzelnen Sachgebiete im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Einschlägig für die angesprochene Problematik (Richtlinienvorschlag über angemessene Mindestlöhne in der EU, COM(2020)682) ist Art 153 (1) b AEUV. Er sieht für die EU zur Verwirklichung der Ziele nach Art 151 AEUV ergänzende und unterstützende Kompetenzen betreffend Arbeitsbedingungen vor.
Das Ziel der Konvergenz der Lebensbedingungen (Art 151 AEUV) wird seit Jahren verfehlt. Während sich die relative Einkommensungleichheit der Beschäftigten in der EU bis 2009 verringerte und seitdem stagniert, steigt die absolute Einkommensungleichheit dramatisch weiter. Das bewirkt enormen Lohndruck für die Beschäftigte in Ländern mit existenzsichernden Löhnen. Darüber hinaus haben Länder wie Rumänien, Litauen und Lettland durch Abwanderung rund 10 Prozent ihrer Bevölkerung verloren.
Die bisher auf europäischer Ebene unternommenen Schritte im Rahmen des Europäischen Semesters zur Verbesserung der Lohnsysteme und des in Art 151 AEUV festgelegten Zieles haben gezeigt, dass die nationalen Maßnahmen nicht ausreichten, um eine Aufwärtskonvergenz der Löhne herbeizuführen. Dies ist aber eine Voraussetzung, um faire Wettbewerbs- und Arbeitsbedingungen im Binnenmarkt zu gewährleisten. Weitere unverbindliche Rechtsakte, wie Ratsempfehlungen oder die offene Methode der Koordinierung, sind aufgrund der Erfahrungen mit dem Europäischen Semester nicht zielführend. Aus diesem Grund ist die EU nach Art 153(2)b AEUV verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenz nach Art 153 (1) b AEUV tätig zu werden.
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