Deutscher Gewerkschaftsbund

10.11.2009

Lehren aus der Krise

Die Spaltung unserer Volkswirtschaft überwinden

Vor der Krise waren die USA der kreditgetriebene Staubsauger der Weltmärkte. Die weltgrößten Exporteure, auch Deutschland, profitierten von dieser Nachfrage. Doch die Kreditblase ist geplatzt. Im Gegensatz zur Kanzlerin meinen wir, dass die deutsche Wirtschaft keineswegs gestärkt aus der Krise hervorgehen wird, denn wichtige Absatzmärkte verlieren ihre Dynamik. Für uns als mehrmaligen Exportweltmeister hat das gravierende Folgen.

Von Claus Matecki

Die wirtschaftliche Ausgangslage

Die Weltwirtschaft ist nach der Krise eine andere. Vor der Krise waren die USA der kreditgetriebene Staubsauger der Weltmärkte. Die weltgrößten Exporteure – Deutschland, Japan und China – profitierten von dieser kreditgetriebenen Nachfrage. Jetzt ist die Kreditblase geplatzt. Die USA wollen und können nicht wie bisher die Lokomotive für die Weltwirtschaft sein. Weder die ostasiatischen Tigerstaaten noch China sind mit ihrer immer noch geringen Kaufkraft in der Lage, die USA zu ersetzen. Innerhalb Europas haben mittelund osteuropäische „Schwellenländer“ und Länder wie Spanien mit ihrem Konsum und ihrem Handelsbilanzdefizit unser Wachstum befördert. Zukünftig werden sich die dortigen Unternehmen und Verbraucher entschulden müssen. Auch wegen des wachsenden Konsolidierungszwangs durch den Wachstums- und Stabilitätspakt wird diese Ländergruppe kaum für Wachstum und Beschäftigung in den Überschussländern wie Deutschland sorgen können. Damit entfallen sowohl in Übersee als auch in Europa zwei zentrale Komponenten der bisher von Export getragenen Wachstumsstrategie der Bundesregierung. Exportorientierung setzt immer zahlungsstarke Konsumenten voraus. Diese haben durch die Krise an Kaufkraft verloren. Jeder Dollar und Euro, der in den Schuldendienst fließt, fehlt aber für den Kauf ausländischer Autos und Maschinen. Die gegenwärtige Krise stellt unsere bisherige Wachstumsstrategie zur Disposition.

Was folgt daraus?

Im Gegensatz zur Kanzlerin sind wir der Auffassung, dass die deutsche Wirtschaft keineswegs gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird. Ehemals wichtige Absatzmärkte verlieren infolge der Krise ihre Dynamik. Die Krise hat die Weltwirtschaft verändert. Das hat gravierende Folgen für uns als mehrmaligen Exportweltmeister.

Die Antworten der schwarz-gelben Regierung

Die schwarz-gelbe Koalition hat keine Antworten auf diesen ökonomischen Strukturwandel. Die stärkere Rolle des Staates ist für sie nur „vorübergehend“. Beteiligungen der öffentlichen Hand sollen generell überprüft werden. Die Ideologie des schlanken Staates feiert hier fröhliche Urstände. Die Deregulierung der Märkte und die Privatisierung öffentlicher Aufgaben ziehen sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag. Einige Beispiele: der Aufbau einer Kapital gedeckten Pflegeversicherung, die Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung und – wenn die Finanzmärkte einen guten Preis versprechen – auch der Deutschen Bahn AG. Im Öffentlichen Nahverkehr sollen kommerzielle Verkehre Vorrang haben.

PublicPrivatePartnership-Modelle sollen durch die Befreiung von der Umsatzsteuer unter anderem in der Infrastrukturentwicklung gegenüber einer öffentlichen Aufgabenerfüllung bevorzugt werden. Ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt muss die Privatisierungspolitik als Konsequenz aus der Wirtschafts- und Finanzkrise grundsätzlich hinterfragt werden? Stattdessen untergräbt schwarz-gelb die Finanzierungsbasis des Staates. Sie versucht mit Steuersenkungen Wachstum anzuregen. So wie die Maßnahmen heute angelegt sind, müssen sie scheitern. Von den Steuerentlastungen profitieren überwiegend Besserverdienende.

Dies gilt gleichermaßen für den Kinderfreibetrag, für die Unternehmensund Erbschaftssteuergeschenke, ebenso wie für die für 2011 geplante Einkommensteuerreform. Ein Drittel der Beschäftigten zahlt aufgrund ihrer geringen Einkommen keine Steuern. Deutlich mehr Netto vom Brutto gibt es nur für dicke Geldbeutel. Reiche sparen aber mindestens jeden vierten Euro. Die Steuergeschenke landen also auf dem Sparbuch. Und ein von vermeintlichen Fesseln befreiter Mittelstand bekommt durch Steuerentlastungen keine Aufträge und Kredite.

Angela Merkel setzt in der schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren auf das Prinzip Hoffnung. Da der heimische Binnenmarkt nicht politisch in Schwung gebracht wird, bleibt nur die Hilfe des Auslands. Am deutschen Export soll die heimische Volkswirtschaft genesen. Diese Hoffnung könnte sich jedoch als trügerisch erweisen.

Die Konsequenzen des „Weiter so“

Mit einem „Weiter so“, oder wie es jetzt heißt: „Auf Sicht fahren“ wird eine nachhaltige Entwicklung unwahrscheinlich:

  • Ökonomisch werden die Potentiale der deutschen Qualitätsproduktion wie sie der vergleichsweise hohe Industriebesatz bietet, nicht für neue Märkte und Produkte genutzt. Das notwendige Kapital für innovative Investitionen ist immer schwerer zu mobilisieren.
  • Ökologisch werden die notwendigen Innovationen und der Strukturwandel, die zur Begrenzung des Klimawandels dringend erforderlich sind, bei der zu erwartenden schleppenden wirtschaftliche Erholung kaum schnell genug umgesetzt.
  • Sozial wächst die Schere zwischen arm und reich, ein großer Teil der Jugend startet seinen Berufsweg unter prekären Bedingungen und droht daraus nicht mehr herauszukommen.

Ausweitung des Niedriglohnsektors beenden – Haltelinien dringend erforderlich

Etwa 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten mittlerweile im Niedriglohnsektor, wir haben also fast amerikanisches Niveau erreicht. Hier brauchen wir dringend eine Umkehr. Der Niedriglohnsektor darf nicht weiter ausufern, denn damit geraten viele Beschäftigte trotz voller Erwerbsarbeit in Abhängigkeit von ergänzenden Transferleistungen. Es ist fatal, Arbeitgebern die Unterschreitung von Tariflöhnen zu ermöglichen und damit Tausende Niedriglöhner zu Hartz IV-Aufstockern zu machen. Auch die geplante gesetzliche Regelung der neuen Bundesregierung zur Sittenwidrigkeit von Löhnen reicht bei weitem nicht aus.

Wenn es möglich ist, um 33,3 Prozent von Tarifverträgen bzw. ortsüblichen Löhnen nach unten abzuweichen, werden damit gerade in strukturschwachen Gebieten Armutslöhne zementiert. So begänne die Sittenwidrigkeit etwa im sächsischen Friseurhandwerk erst unterhalb von 2,04 Euro pro Stunde. Im Berliner Bewachungsgewerbe läge diese Grenze bei 3,66 Euro pro Stunde, in der Steine-Erden-Industrie in Thüringen unterhalb von 4,55 Euro, in der westdeutschen Systemgastronomie bei 4,80 Euro und im nordrhein-westfälischen Einzelhandel bei 5,50 Euro pro Stunde.

Mindestlöhne müssen kommen

Existenzsicherung funktioniert nicht mit Entgelten in dieser Größenordnung. Die europäischen Nachbarländer haben deutlich gezeigt, wie hoch Löhne sein müssen, um ökonomisch tragfähig zu sein. So liegt der Mindestlohn z.B. in Luxemburg bei 9,73 Euro pro Stunde, in Frankreich bei 8,82 Euro, in Irland bei 8,65 Euro und in den Niederlanden bei 8,58 Euro. Es ist völlig unerklärlich, warum ein solches Konzept in Deutschland nicht funktionieren sollte. Die Bundesregierung bewegt sich auf einem völlig falschen Weg, wenn sie einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn ablehnt.

Tarifarbeit wird erschwert

Von einer „Stärkung des Tarifausschusses“, wie sie im Koalitionsvertrag behauptet wird, kann keine Rede sein. Das Vorhaben, allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge auf dem Verordnungswege (Tarifverträge nach dem Entsendegesetz) einvernehmlich im Kabinett regeln zu wollen, bedeutet eine Schwächung gegenüber der heutigen Lage. Bei Stimmengleichheit (3 zu 3) im Tarifausschuss muss auch heute das Kabinett entscheiden. Bei Stimmenmehrheit konnte dies bisher durch den Bundesarbeitsminister allein erfolgen. Wir müssen davon ausgehen, dass in Zukunft Allgemeinverbindlicherklärungen seltener verabschiedet und umgesetzt werden können.

Zum 1. Mai 2011 steht die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit an. Es ist dringend erforderlich, dass bis zu diesem Zeitpunkt europarechtskonforme Regelungen bestehen, damit Lohndumping vermieden wird. Sollte es dann keine allgemeingültigen Lohnuntergrenzen geben, könnten entsandte Beschäftigte aus den EU-Beitrittsländern nach dem Entgelt ihrer jeweiligen Heimatländer entlohnt werden. Wir wollen keine Arbeitnehmerfreizügigkeit behindern, aber wir haben die sozialpolitische Verwerfung am heimischen Arbeitsmarkt vor Augen und weisen deshalb vehement auf unsere Forderung nach Mindestlöhnen für den Zeitpunkt ab 1. Mai 2011 hin. Bis zum 1. Mai 2011 sind es nur noch 536 Tage. Hier wird der dringende Handlungsbedarf deutlich.

Eines muss klar herausgestellt werden: Sozialpolitische und rechtliche Änderungen müssen in diesem Fall den arbeitenden Menschen dienen. Lohnkostenwettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten ist nicht Ziel führend und Frieden stiftend. Die Politik weigert sich seit langem, vernünftigere Regelungen zur Tariftreue zu veranlassen. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2006 entsprechende Möglichkeiten für die Politik eröffnet, die bislang nicht aufgenommen worden sind. Notwendig ist ein Umdenken in der Politik und bei den Arbeitgebern.

Tarifverträge und Binnenkonjunktur

Tarifverträge haben – neben ihrer Ordnungs- und Friedensfunktion – auch erheblichen Einfluss auf die Binnenkonjunktur. Bei der derzeitigen Schwäche der deutschen Exportwirtschaft sollte gerade auch eine tarifpolitisch stabilisierte Binnenkonjunktur stützend auf Beschäftigung wirken. Eine Ausweitung von Tarifverträgen über das Entsendegesetz ist daher sinnvoll. So haben etwa die Arbeitgeber des Bausektors die Mindestlohnregelung auf Basis des Entsendegesetzes von 1996 selbst gelobt und auch festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit im Bausektor ohne einen solchen Mindestlohn um 240.000 Beschäftigte höher läge.

In den nächsten Wochen und Monaten beginnen die Tarifverhandlungen für das Jahr 2010. Die wirtschaftliche Lage ist nicht gerade rosig, dennoch sollten tarifpolitische Spielräume zur Stabilisierung der Nachfrage genutzt werden. Die Beschäftigten haben mit ihren Gewerkschaften sehr viel zur Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe beigetragen. Diese Zugeständnisse - plus die Gehaltseinbußen wegen der Kurzarbeit - haben natürlich Grenzen. Es bedarf hier also eines Maßnahmebündels, um wirtschaftliche Impulse zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum zu initiieren.

Wirtschaftspolitische Antworten der Gewerkschaften

Die stark exportabhängige deutsche Volkswirtschaft muss ihr Wachstum künftig besser ausbalancieren. Die Spaltung unserer Volkswirtschaft in eine hoch wettbewerbsfähige Exportindustrie und eine billige binnenmarktorientierte Dienstleistungsökonomie muss überwunden werden. Ein konsequenter Umbau der Produktionsstrukturen in Richtung Energie- und Ressourceneffizienz, Umwelttechnologien und Klimaschutz könnte das Wirtschaftswachstum im kommenden Jahrzehnt auf deutlich mehr als zwei Prozent pro Jahr erhöhen und neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen.

Damit die Krise als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden kann, muss ein höheres Investitionsniveau erreicht werden. Dazu bedarf es einer glaubwürdigeren Zukunftsperspektive als ein „Weiter so“. Denn die Herausforderungen sind groß: die globale Energie-, Wasser- und Rohstoffknappung, der dramatisch fortschreitende Klimawandel einerseits und der industrielle Wandel z.B. in der Automobilindustrie andererseits. Die ökologische Herausforderung sollte Ansporn für weitreichende Innovationen sein. So könnten gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Lebensqualität in Deutschland gefördert werden.

Hierfür braucht es einen handlungsfähigen Staat. Ein moderner Staat investiert kräftig in Bildung, Gesundheit und den ökologischen Umbau. Dies geht nicht ohne breitere Finanzierungsbasis. Nicht weniger Steuern, sondern höhere Steuern für Bezieher hoher Einkommen, Vermögende und profitable Unternehmen sind das Gebot der Stunde. Ein reformiertes Regelwerk der Finanzmärkte muss Investitionen in Maschinen, Anlagen und Arbeitsplätze fördern und Spekulation diskriminieren. Durch Mindestlöhne, starke Flächentarifverträge und mehr sozial versicherte Beschäftigung können die Löhne wiedersteigen. Deutschland muss sein Verteilungsproblem lösen. Ein solcher nachhaltiger Entwicklungspfad erzeugt mehr qualitatives Wachstum und mehr gute Arbeit.


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