Deutscher Gewerkschaftsbund

17.08.2011
Interview

Bildungsreform: Hauptschule ohne Perspektiven

In der CDU ist ein heftiger Streit um die Zukunft der Hauptschule entbrannt. Die Parteispitze um Bundesbildungsministerin Annette Schavan will sie abschaffen, etliche Landespolitiker wollen an dieser Schulform – als Markenkern der Union – festhalten. Hat die Hauptschule überhaupt eine Zukunft? Wir fragten DGB-Bildungsexperte Matthias Anbuhl.

In der CDU ist ein heftiger Streit um die Zukunft der Hauptschule entbrannt. Die Parteispitze um Bundesbildungsministerin Annette Schavan will sie abschaffen, etliche Landespolitiker wollen an dieser Schulform – als Markenkern der Union – festhalten. Hat die Hauptschule überhaupt eine Zukunft?

 

Matthias Anbuhl: Nein, sie ist ein Auslaufmodell. Ihre Akzeptanz in der Gesellschaft geht gen null. Vor Ort stimmen die Eltern längst mit dem Füßen ab. Nur etwa vier Prozent der Eltern melden ihre Kinder an der Hauptschule an. Und das ist auch nachvollziehbar. Denn diese Schulform bietet ihren Kindern kaum noch Perspektiven. In den Hauptschulen sitzt ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die die PISA-Forscher als Risikoschüler einstufen. Und auch der Wechsel von der Schule in die Berufausbildung funktioniert nicht mehr. Mehr als die Hälfte der Hauptschülerinnen und Hauptschüler findet direkt nach ihrem Abschluss keine Ausbildungsplatz, sondern wird in sinnlosen Warteschleifen geparkt.

 

Übrigens: Auch die größten Freunde der Hauptschule schicken ihre Kinder lieber auf das Gymnasium oder die Realschule.

 

In den meisten Bundesländern gibt es die Hauptschule ohnehin nicht mehr. Dort setzt man auf ein zweigliedriges System. Es gibt eine Schulform, die Haupt- und Realschule zusammenfasst und das Gymnasium. Viele Bildungsexperten sehen in diesem Modell einen historischen Kompromiss. Die Gewerkschaften auch?

 

Matthias Anbuhl: Nein, dieses Modell kann bestenfalls ein pragmatischer Zwischenschritt sein. Und das nur, wenn die zweite Schulform neben dem Gymnasium auch das Abitur anbietet. So zeigen zahlreiche Studien, dass an Haupt- und Realschulen viele jungen Menschen sitzen, die mit ihren Leistungsmöglichkeiten auch das Gymnasium besuchen könnten. In der Hauptschule lernen sie aber zu wenig. Sie könnten dann auch an der zweiten Schulform neben dem Gymnasium ihr Abitur machen. Das Monopol des Gymnasiums auf das Abitur wäre geknackt. Das ist schon ein Fortschrit.

 

Dennoch hat auch dieses Modell ein zentrales Manko: Dieses Modell rüttelt weder am Gymnasium noch an der Sonder- und Förderschulen. Es bleibt eine hierarchische Spaltung in unserem Schulsystem: Wer kann, rettet sein Kind auf das Gymnasium, der Rest muss seine Kinder auf die ungeliebte Oberschule schicken. Und die Sonder- und Förderschulen bleiben das Auffangbecken für die vollends Ausgegrenzten; übrigens mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten.

 

Die Gewerkschaften reichen also nicht die Hand zum „historischen Schulkompromiss“?

 

Matthias Anbuhl: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gewerkschaften die Hand für einen Kompromiss reichen, der letztlich die soziale Spaltung im Schulsystem festschreibt. Der Wunsch nach einem Schulfrieden mag menschlich verständlich sein, ich finde diese Idee aber nicht überzeugend: In einer Demokratie müssen wir um die beste Schulform für unsere Kinder ringen.

 

Wird die Schulstruktur nicht überschätzt Viele Bildungsforscher sagen doch, man solle sich lieber um die Qualität des Unterrichts kümmern.

 

Matthias Anbuhl: Nein, das kann man nicht trennen. Unterrichtskultur und Schulstruktur müssen zusammenpassen. In der Tat muss sich die Art des Lernens ändern. Der zerstückelte Schultag mit 45 Minuten-Häppchen und Frontalunterricht von der Stange ist veraltet. Wir brauchen einen maßgeschneiderten Unterricht für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin. Dazu gehören Freiarbeit, Wochenpläne und Projekte, in denen die Kinder selbst aktiv werden können. Wird der Unterricht nicht individualisiert, leidet das Gros der Schülerinnen und Schüler unter Über- oder Unterforderung.

 

Wenn der Unterricht auf den Einzelnen zugeschnitten wird, macht es keinen Sinn zu kategorisieren und in drei Schulformen zu sortieren. Es gibt eben nicht den Gymnasiasten, Real- oder Hauptschüler. Die einzelnen Kompetenzen sind bei jedem Schüler äußerst unterschiedlich ausgebildet. Manche sind stark in Sprachen, andere eher mathematisch, motorisch oder musisch begabt. Die frühe Auslese der Kinder schon im Alter von zehn Jahren ist pädagogisch zudem nicht haltbar. In der vierten Klasse lässt sich die Entwicklung der Kinder einfach nicht zuverlässig abschätzen. Deshalb hat ein Akademikerkind gegenüber einem Arbeiterkind bei gleicher Leistung eine drei Mal höhere Chance auf das Gymnasium zu kommen. Kurzum: Soziale Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit lässt sich am besten in einer guten Gesamtschule erreichen, die auf individuelle Förderung statt Auslese setzt.

Porträt Matthias Anbuhl

Bildungsexperte Matthias Anbuhl leitet die Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand. Foto: DGB

Matthias Anbuhl: Nein, sie ist ein Auslaufmodell. Ihre Akzeptanz in der Gesellschaft geht gen null. Vor Ort stimmen längst die Eltern mit dem Füßen ab. Nur noch etwa vier Prozent der Eltern melden ihre Kinder an der Hauptschule an. Und das ist auch nachvollziehbar. Denn diese Schulform bietet ihren Kindern kaum noch Perspektiven. In den Hauptschulen sitzt ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die die PISA-Forscher als Risikoschüler einstufen. Auch der Wechsel von der Schule in die Berufausbildung funktioniert nicht mehr. Mehr als die Hälfte der HauptschülerInnen findet direkt nach ihrem Abschluss keinen Ausbildungsplatz, sondern wird in sinnlosen Warteschleifen geparkt. Übrigens: Auch die größten Freunde der Hauptschule schicken ihre Kinder lieber auf das Gymnasium oder die Realschule.

In den meisten Bundesländern gibt es ohnehin keine Hauptschule mehr. Dort setzt man auf ein zweigliedriges System - da gibt es eine Schulform, die Haupt- und Realschule zusammenfasst und das Gymnasium. Viele Bildungsexperten sehen in diesem Modell einen historischen Kompromiss. Die Gewerkschaften auch?

Nein, dieses Modell kann bestenfalls ein pragmatischer Zwischenschritt sein. Und das nur, wenn auch die zweite Schulform neben dem Gymnasium auch das Abitur anbietet. So zeigen zahlreiche Studien, dass an Haupt- und Realschulen viele jungen Menschen sitzen, die mit ihren Leistungsmöglichkeiten auch das Gymnasium besuchen könnten. In der Hauptschule lernen sie aber zu wenig. Wenn sie an der zweiten Schulform ihr Abitur machen könnten, wäre das Monopol des Gymnasiums auf die Hochschulreife geknackt. Das wäre schon ein Fortschritt.

Aber das Schulsystem bleibt damit weiterhin gegliedert...

Ja. Es bleibt ein zentrales Manko: damit wird weder am Gymnasium noch an den Sonder- und Förderschulen gerüttelt. Die hierarchische Spaltung unseres Schulsystems bleibt! Wer kann, "rettet" sein Kind auf das Gymnasium, der Rest muss seine Kinder auf die ungeliebte Oberschule schicken. Und die Sonder- und Förderschulen bleiben das Auffangbecken für die vollends Ausgegrenzten; übrigens mit einem hohen Anteil an MigrantInnen.

Die Gewerkschaften reichen also nicht die Hand zum „historischen Schulkompromiss“?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gewerkschaften die Hand für einen Kompromiss reichen, der letztlich die soziale Spaltung im Schulsystem festschreibt. Der Wunsch nach einem Schulfrieden mag menschlich verständlich sein, ich finde diese Idee aber nicht überzeugend: In einer Demokratie müssen wir um die beste Schulform für unsere Kinder ringen.

Wird die Schulstruktur nicht überschätzt? Viele Bildungsforscher sagen doch, man solle sich lieber um die Qualität des Unterrichts kümmern.

Nein, das kann man nicht trennen. Unterrichtskultur und Schulstruktur müssen zusammenpassen. In der Tat muss sich die Art des Lernens ändern. Der zerstückelte Schultag mit 45 Minuten-Häppchen und Frontalunterricht von der Stange ist veraltet. Wir brauchen einen maßgeschneiderten Unterricht für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin. Dazu gehören Freiarbeit, Wochenpläne und Projekte, in denen die Kinder selbst aktiv werden können. Wird der Unterricht nicht individualisiert, leidet das Gros der Schülerinnen und Schüler unter Über- oder Unterforderung.

Individualisierung auf der einen Seite, gemeinsames Lernen andererseits. Wie passt das zusammen?

Wenn der Unterricht auf den Einzelnen zugeschnitten wird, macht es keinen Sinn zu kategorisieren und in drei Schulformen zu sortieren. Es gibt eben nicht den Gymnasiasten, Real- oder Hauptschüler. Die einzelnen Kompetenzen sind bei äußerst unterschiedlich ausgebildet. Manche sind stark in Sprachen, andere eher mathematisch, motorisch oder musisch begabt. Die frühe Auslese der Kinder schon mit zehn Jahren ist pädagogisch zudem nicht haltbar. In der vierten Klasse lässt sich die Entwicklung der Kinder einfach nicht zuverlässig abschätzen. Deshalb hat ein Akademikerkind gegenüber einem Arbeiterkind bei gleicher Leistung eine drei Mal höhere Chance auf das Gymnasium zu kommen. Kurzum: Soziale Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit lässt sich am besten in einer guten Gesamtschule erreichen, die auf individuelle Förderung statt Auslese setzt.


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