Aktuelle Entscheidungen zum Arbeits- und Sozialrecht. Unter anderem: Auch illegal Beschäftigte genießen Schutz der gesetzlichen unfallversicherung, Strafgefangene haben Anspruch auf Elterngeld, betriebliche Übung wird nicht durch „konkludente Vertragsänderung“ beseitigt
Sobald sich der Arbeitgeber entschließt, die Arbeitnehmer weiterhin einem allgemeinen Vergütungssystem zuzuordnen, selbst wenn dieses einseitig und vom Arbeitgeber unter Missachtung des Mitbestim mungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG eingeführt oder fortgeführt wurde, muss er diejenigen Arbeitnehmer, die unter den persönlichen Geltungsbereich dieses Vergütungssystems fallen, unter Beachtung des Mitbeurteilungsrechts des Betriebsrates nach § 99 BetrVG eingruppieren.
LAG Niedersachsen vom 23.05.2011 – 12 TaBV 70/10; NZB eingelegt, 7 ABN 63/11
Ein Arbeitnehmer, der sich nach einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung im Zeitraum des Annahmeverzuges an einem Arbeitskampf beteiligt, hat keinen Anspruch auf Verzugslohn. Ob er sich am Arbeitskampf beteiligt, hängt von seinem Verhalten ab: So kann er sich dem Streik dadurch anschließen, dass er sich in der Öffentlichkeit als Streikteilnehmer bekennt und an den öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen teilnimmt, durch welche auf die Arbeitgeberseite psychologischer Druck zum Eingehen auf die Kampfforderung ausgeübt werden soll.
LAG Hamm vom 19.05.2011 – 8 Sa 2064/10; Revision beim BAG anhängig, 5 AZR 567/11
Betriebliche Übungen begründen arbeitsvertragliche Ansprüche auf die vom Arbeitgeber gewährten Leistungen. Diese können – wie alle arbeitsvertraglichen Ansprüche – nicht unter ‚erleichterten Bedingungen’ vom Arbeitgeber aufgehoben werden. Insbesondere nimmt der Arbeitnehmer ein die betriebliche Übung abänderndes Vertragsangebot weder durch Schweigen an – noch ist das widerspruchslose Weiterarbeiten als Zustimmung zum Änderungsangebot zu werten.
LAG Rheinland-Pfalz vom 16.08.2011 – 3 Sa 167/11
Auch wenn die vom Bundesarbeitsgericht angenommene ‚Regelfrist’ der Mitteilung der Schwerbehinderung von drei Wochen nach Zugang der Kündigung bereits abgelaufen ist, löst die erst kurz danach dem Arbeitgeber mitgeteilte Schwerbehinderung den Sonderkündigungsschutz des § 85 SGB IX aus. Zwar unterliegt das Recht des Arbeitnehmers, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen, der Verwirkung. Jedoch greift die Verwirkung dann nicht, wenn zwar das Zeitmoment erfüllt ist, das Umstandsmoment aber nicht.
LAG Düsseldorf vom 08.09.2011 – 5 Sa 672/11
Die zeitlich befristete Bereitstellung von Haushaltsmitteln rechtfertigt die Befristung des Arbeitsverhältnisses nicht in jedem Fall. Jedenfalls dann nicht, wenn das befristete Arbeitsverhältnis der Vertretung eines Mitarbeiters dient, dem aus diesen Haushaltsmitteln befristet andere Arbeitsaufgaben übertragen werden. In diesem Fall ist vor Abschluss des befristeten Vertretungsvertrages zusätzlich eine negative Zukunftsprognose über den tatsächlichen Wegfall der Haushaltsmittel erforderlich.
LAG Köln vom 14.09.2011 – 3 Sa 69/11; Revision anhängig beim BAG – 7 AZR 761/11
Ein Seminaranbieter hat nach § 16 Abs. 1 MAVO einen Anspruch auf sachliche Entscheidung über die „Geeignetheit“ einer Fortbildungsveranstaltung gegenüber dem Bistum oder dem Diözesancaritasverband. Darüber ist auf Antrag des Seminaranbieters zu entscheiden. Da eigene – nach Kirchenrecht errichtete – Verwaltungsgerichte bei der katholischen Kirche nicht bestehen, ist für eine Überprüfung dieser Entscheidung der Verwaltungsrechtsweg vor dem staatlichen Verwaltungsgericht eröffnet, wenn eine Kirche als kirchenrechtliche Personal-und Verbandskörperschaft des öffentlichen Rechts gehandelt hat.
VG Wiesbaden vom 27.10.2011 – 6 K 553/11; nicht rechtskräftig
Eine abhängige Beschäftigung unterliegt auch dann dem Unfallversicherungsschutz, wenn der als Arbeitnehmer zu qualifizierende Beschäftigte ohne schriftlichen Arbeitsvertrag trotz fehlender Aufenthalts- u. Arbeitserlaubnis, also illegal beschäftigt wird. Der Versicherungsschutz entfällt nicht durch verbotswidriges Handeln (§7 Abs. 2 SGB VII).
LSG Hessen vom 01.11.2011 – L 9 U 46/10; Revision nicht zugelassen
Eine entgegenstehende Weisungslage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entspricht nicht dem Gesetz, wenn die Haftzeit mit dem Kind im Gefängnis verbracht wird. Der Begriff des gemeinsamen Haushalts ist durch die gemeinsame Wirtschaftsführung und ein auch im Gefängnis mögliches Leben in häuslicher Gemeinschaft erfüllt. Das Gefängnis stellt in diesem Fall unbestreitbar den Lebensmittelpunkt dar. Auch die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind liegt vor.
SG Berlin vom 21.10.2011 – S 2 EG 139/08; nicht rechtskräftig
Ist an einem anderen Gericht ein Beschlussverfahren gemäß § 97 Abs. 5 ArbGG anhängig, in dem geklärt werden soll, ob die Feststellung der Tarifunfähigkeit der CGZP auch vor der BAG-Entscheidung vom 14.12.2010 bzw. vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung des vorangegangenen LAG-
Verfahrens besteht, sind Urteilsverfahren, in denen diese Frage entscheidungserheblich ist, nicht auszusetzen. Eines Aussetzungsbeschlusses nach § 97 Abs. 5 ArbGG bedarf es ebenfalls nicht.
LAG Sachsen-Anhalt vom 02.11.2011 – 4 Ta 130/11; a. A. LAG Nürnberg vom 19.09.2011 – 2 Ta 128/11, anhängig beim BAG