Deutscher Gewerkschaftsbund

03.09.2012

BA-Vorstand: Aufgaben der Arbeitslosenversicherung ausbauen

Der DGB fordert eine Ausweitung des Schutzes durch die Arbeitslosenversicherung insbesondere mit Blick auf kurzzeitig Beschäftigte. Raimund Becker, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, teilt diese Position nur bedingt. Er sieht neue Handlungsmöglichkeiten insbesondere bei einer einheitlichen Ausbildungsvermittlung und der Weiterbildung Erwerbsloser wie Beschäftigter.

Raimund Becker, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit

Raimund Becker, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit Bundesagentur für Arbeit

Wie bewerten Sie die Feststellung des DGB, dass die Arbeitslosenversicherung bei insgesamt unzureichendem Schutz für ArbeitnehmerInnen zunehmend an Bedeutung verliert?

Raimund Becker: Das System der Risikoversicherung „Arbeitslosigkeit“ beruht grundsätzlich auf dem Normalarbeitsverhältnis. Doch Arbeits- und Beschäftigungsformen jenseits dieser traditionellen Erwerbsbiografie haben in den letzten Jahren zugenommen. So sind befristete Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit, Teilzeit- und geringfügige Beschäftigung sowie Selbständigkeit heute stärker vertreten. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hat festgestellt, dass sich für Geringqualifizierte und Jüngere das Risiko eines Arbeitgeberwechsels oder des Arbeitsplatzverlustes in den letzten Jahren deutlich verschärft hat. Vereinzelt hat der Gesetzgeber auf diese geänderten Verhältnisse reagiert. So ist zum Beispiel für Selbständige die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung eingeführt worden, so dass sie im Fall der Fälle nicht unmittelbar auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.

Wenn ich eine quantitative Perspektive aufdie Arbeitslosenversicherung werfe, so hat sie an Bedeutung verloren. Zum einen liegt das an ihrer Konjunktursensibilität, das heißt positive und negative Entwicklungen in der Wirtschaft zeichnen sich schneller und deutlicher ab als in der Grundsicherung. Mitbestimmend war auch die Wertentscheidung des Gesetzgebers, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen und Hartz IV einzuführen. Die früheren Arbeitslosenhilfeempfänger wurden früher durch das Versicherungssystem betreut, heute jedoch durch die unterschiedlichen Organisationen der Grundsicherung. Die Änderung der Rahmenfrist hat gleichfalls dazu beigetragen den Zugang zu Versicherungsleistungen zu erschweren.

Wenn ich die Arbeitslosenversicherung jedoch nicht nur an den Voraussetzungen für den Arbeitslosengeldbezug messe, komme ich zum Ergebnis, dass sie qualitativ an Bedeutung gewonnen hat. So hat sie in ihrer bisherigen Weiterentwicklung schon einige Antworten auf die künftigen Herausforderungen des Fachkräftebedarfs gegeben. Gerade auf Betreiben des DGB sind die „Initiative zur Flankierung des Strukturwandels“ (IFlaS) und die „Weiterbildung Geringqualifizierter und beschäftigter Älterer in Unternehmen“ (WeGebAU) entstanden. Im Kern geht es in diesen präventiven Initiativen darum, die Beschäftigungsfähigkeit vor allem von gering qualifizierten Menschen in  Arbeitslosigkeit und Beschäftigung zu erhöhen. Es sind gute Beispiele für zukunftsorientiertes Handeln.

Auch beim Übergang Schule – Beruf, einem weiteren wichtigen Präventionsfeld, hat die beitragsfinanzierte Arbeitslosenversicherung eine Schlüsselfunktion übernommen.

Perspektivische Handlungsfelder einer weiterentwickelten Arbeitslosenversicherung könnten auch Beiträge bei der individuellen Weiterbildungsberatung für beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Qualifizierungsberatung zur Verbesserung der Personalarbeit in kleinen und mittleren Unternehmen sein.

Der DGB will den Versicherungsschutz ausbauen, wobei die Kosten teilweise über den Solidarausgleich der Versichertengemeinschaft getragen, im Falle des Mindestarbeitslosengeldes, aber vom Bund erstattet werden sollen. Ein richtiger Vorschlag?

Die vorgeschlagenen Änderungen hätten zum einen für Arbeitslose Verbesserungen zur Folge. Der Anteil der Anspruchsberechtigten würde steigen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten so über einen längeren Zeitraum notwendige Anwartschaftspunkte sammeln, um einen Leistungsanspruch zu begründen. Unter der Voraussetzung, dass Arbeitslosengeld über der Grundsicherung liegt, könnte für bestimmte Personengruppen auch das Armutsrisiko gesenkt werden. Vorstellbar ist ebenso, dass durch die längere Suchmöglichkeit die Passgenauigkeit von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt zunähme und zuvor Arbeitslose seltener in Arbeitslosigkeit zurückfielen, sie wären nachhaltiger beschäftigt.

Andererseits könnte nach den vorläufigen Ergebnissen unserer Arbeitsmarktforschung die Suchintensität abnehmen und sich der Verbleib in Arbeitslosigkeit verlängern, da Arbeitslosen längere Zeit zur Verfügung stände, nach einer geeigneten Stelle zu suchen. Harte Belege für das eine oder das andere Szenario lassen sich aus der Zeit der ehemaligen Regelungen nicht ableiten.

Die finale Wertentscheidung, wie eng oder wie weit die Voraussetzungen für einen Arbeitslosengeldanspruch sein sollen, orientiert sich dabei nur bis zu einem gewissen Grad an fachlichen Argumenten. Es geht auch um die Frage der materiellen Gerechtigkeit in einem beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystem. Dieses „Austarieren“, was gerechte materielle Absicherung ist, muss in einen politischen Diskurs eingebettet werden. Je stärker die Diskontinuität von Erwerbsverläufen zunimmt, je mehr Betroffene es gibt, umso mehr müssen auch die Voraussetzungen für den materielle Versicherungsschutz in Form von Arbeitslosengeld hinterfragt werden. Rahmenfrist oder Anwartschaftszeiten können dann Regelungsgegenstände sein.

Die hinter dem Vorschlag des Mindestarbeitslosengeldes liegende Idee, Arbeitslose, die im Kern einen Arbeitslosengeldanspruch haben und aufstockende Hartz IV-Leistungen erhalten, durch die Agenturen und damit durch das Versicherungssystem betreuen zu lassen und die zusätzlichen Aufwände erstattet zu bekommen, teile ich im Grundsatz. Es wäre aus Sicht des Kunden besser, nur eine Anlaufstelle für die Lohnersatzleistungen zu haben, die Berechnung wäre um ein Vielfaches einfacher und die dadurch eingesparten Personalressourcen könnten der eigentlichen Betreuung der Kunden zu Gute kommen. Das Versicherungssystem ist eigentlich auch das richtige System für die Betreuung dieser Personengruppe, da sie nah am Arbeitsmarkt ist und nur „zufällig“ durch den Umstand der Aufstockung in die Betreuung der Grundsicherungsstellen fällt. Bei der Ausarbeitung eines solchen Konzeptes dürfte der Teufel jedoch im Detail liegen.

Wo liegt aus Ihrer Sicht derzeit dringender Reformbedarf an der Schnittstelle zwischen Arbeitslosenversicherung und Hartz IV-System?

Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass in der Grundsicherung eine gute Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Bundesagentur für Arbeit das erfolgreichere und bürokratieärmere Modell ist. Ein unkomplizierter Austausch von Daten zwischen gemeinsamen Einrichtungen und Arbeitsagenturen, keine Doppeleingaben durch die Kunden, Verzahnung und Abstimmung der regionalen Arbeitsmarktpolitik, gemeinsamer Arbeitgeberservice, überregionale Vermittlung sind nur einige Schlagworte, die den Wettbewerbsvorteil in der Zusammenarbeit zwischen den Agenturen und den gemeinsamen Einrichtungen gegenüber den zugelassenen kommunalen Trägern aufzeigen. Diese Vorteile dienen allein dem Ziel die Betreuung/ Integration in den Arbeitsmarkt der Arbeitslosen und erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu verbessern.

Weiteren Handlungsbedarf sehe ich auf dem Ausbildungsmarkt. Das Versicherungssystem macht schon heute für alle Jugendlichen Berufsorientierung und Berufsberatung. Nur bei der Ausbildungsvermittlung gibt es drei Systeme: die Arbeitsagenturen, die zugelassenen kommunalen Träger und die gemeinsamen Einrichtungen, die zwar überwiegend die Ausbildungsvermittlung auf die Agenturen übertragen haben, das aber zum Teil auch nur zeitlich befristet. Ziel müsste sein, dass die Arbeitsagenturen für all diese Stellen die Ausbildungsvermittlung übernimmt.

Arbeitslose, die durch Aufstockung des Arbeitslosengeldes bisher in die Betreuung des Grundsicherungssystems fallen, sollten durch das Versicherungssystem betreut werden. Diese Personengruppe ist sehr nah am Arbeitsmarkt, vor allem während der ersten Phase der Arbeitslosigkeit. Ich denke, dass ihre Chancen höher sind, wenn sie in dem marktnäheren System betreut würden.

Vor dem Hintergrund zunehmender Fachkräftebedarfe in einzelnen Branchen und Regionen sehe ich die Notwendigkeit einer noch besseren Verzahnung der „Qualifizierungslogiken“ beider Systeme. Die Arbeitslosenversicherung hat mit Unterstützung der Sozialpartner bundesweite Programme für Arbeitslose und Beschäftigte aufgelegt, die sich immer an den regionalen Bedarfen orientieren. Ganz ähnlich der „Initiative zur Flankierung des Strukturwandels“ (IFlaS) bedarf es ganzheitlicher Ansätze zur nachhaltigen Hebung der Beschäftigungsfähigkeit auch jenseits des Versicherungssystems. Eine solche rechtskreisübergreifende Strategie wäre trotz der komplizierten Governancestruktur in der Grundsicherung auch dort überall wünschenswert.  


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