In den letzten 20 Jahren hat in der Fleischindustrie in Deutschland ein massiver Konzentrationsprozess stattgefunden. 2018 kamen die zehn größten Schweineschlachtunternehmen zusammen auf einen Marktanteil von knapp 80 Prozent - und sie bauen ihn stetig weiter aus. In Megafabriken wie Tönnies in Rheda-Wiedenbrück werden jeden Tag Tausende Tiere geschlachtet. Arbeitsverhältnisse dauern oft nur kurz.
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Mehr als die Hälfte der Branchenumsätze in der Fleischindustrie entfällt auf die 15 größten Betriebe. Im März 2020 erzielte die deutsche Fleischwirtschaft sogar einen Umsatzrekord von 3,9 Milliarden Euro. Im April 2020 – in der Hochphase der Corona-Pandemie – sind die Umsätze etwas gesunken, blieben aber auf dem Niveau des Vorjahres. Wie ist das möglich?
Einen Hinweis darauf geben die über Tausend mit Corona infizierten Arbeitnehmer*innen der Branche: Unter dem Deckmantel der „Systemrelevanz“ lief an vielen Standorten der Betrieb einfach unverändert weiter, ohne dass die geltenden Arbeits-, Gesundheits- und Infektionsschutzstandards umgesetzt wurden. Reportagen und Videos aus den Produktionsstätten zeigen, dass weder beim Arbeiten noch in den Pausen ausreichend Abstand eingehalten wurde und nicht genug Masken vorhanden waren. Die Sammeltransporte zum Arbeitsplatz sowie die Überbelegung und oftmals menschenunwürdigen hygienischen Standards der Unterkünfte haben wahrscheinlich auch maßgeblich zur rapiden Entwicklung der Infektionszahlen beigetragen.
Mit Ausnahme von Westfleisch beschäftigen die großen deutschen Schlachtbetriebe nach wie vor nur noch einen Anteil von 10 bis maximal 50 Prozent eigener Arbeitnehmer*innen. Die anderen Beschäftigten arbeiten für Subunternehmen oder Leiharbeitsfirmen. Mit dem Ziel, immer billigeres Fleisch zu produzieren, setzte die Fleischindustrie seit Jahren auf unterschiedliche prekäre Vertragskonstruktionen: entsandte Beschäftigte aus anderen Ländern der EU, Leiharbeitnehmer*innen und geringfügig Beschäftigte. Diese Modelle sind auch heute noch vorhanden, seit der Einführung des Mindestlohnes in Deutschland findet die Personalkostenminimierung aber hauptsächlich mithilfe von Werkverträgen statt.
Das Modell sieht so aus: Schlachtung und Fleischverarbeitung werden im Rahmen eines Werkvertrages parallel an mehrere Subunternehmen ausgelagert. Diese erledigen dann ihr „Werk“ (also fast die komplette Schlachthofproduktion) auf dem Betriebsgelände des auftraggebenden Schlachthofes, aber mit eigenen Arbeitnehmer*innen. Die Belegschaften dieser Subunternehmen bestehen mehrheitlich aus in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigten osteuropäischen Kolleg*innen, die mit Versprechungen eines „Rundum-Pakets“ von Beschäftigung, Transport und Unterbringung nach Deutschland angeworben werden. Die Kolleg*innen beherrschen oft nicht die deutsche Sprache, sind selten gewerkschaftlich organisiert und stehen in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Arbeitgebern. Faktisch sind ihre Möglichkeiten der Durchsetzung von verletzten Arbeits- und Sozialrechten stark eingeschränkt.
Werkverträge werden von Auftraggebern der Fleischbranche eingesetzt, um die Arbeits- und Sozialstandards einer Festanstellung zu unterlaufen. Es handelt sich dabei weder um eine sinnvolle Arbeitsaufteilung zwischen gleichberechtigten Unternehmen, noch um eine Strategie zur Deckung von temporär erhöhtem Personalbedarf. Es ist eine prekäre Dreiecks-Beschäftigungsbeziehung wodurch sich Auftraggeber ihrer Verantwortung als de facto Arbeitgeber entziehen.
Der Schlachthof schließt ein Überlassungsvertrag mit einem Personaldienstleister über 100 Arbeitskräfte. Die 100 Beschäftigten bleiben Arbeitnehmer*innen des Personaldienstleisters, werden aber für eine gewisse Einsatzzeit dem Schlachthof verliehen. Dieser darf über sie verfügen, wie über eigene Arbeitnehmer*innen.
Der Schlachthof schließt ein Werkvertrag mit einem Subunternehmen über die Schlachtung von 1 Mio. Schweine. Das Subunternehmen erledigt das „Werk“ in eigener Regie und mit eigenen Beschäftigten. Der Schlachthof verfügt nicht über die Arbeitnehmer*innen des Subunternehmens.
Der Schlachthof schließt ein Werkvertrag mit einem Subunternehmen mit Sitz in einem anderen Staat der EU über die Schlachtung von 1 Mio. Schweine. Das Subunternehmen erledigt das „Werk“ in eigener Regie und mit eigenen Beschäftigten, die vorübergehend diese Dienstleistung im Aufnahmestaat erbringen. Der Schlachthof verfügt nicht über die Arbeitnehmer*innen des Subunternehmens. Diese haben einen ausländischen Arbeitsvertrag und für sie gilt das Arbeitsrecht ihres Herkunftsstaates, bis auf gewisse zwingende Mindeststandards, die im Arbeitnehmerentsendegesetz geregelt sind. Dieses Modell ist nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wirtschaftlich unattraktiv geworden und wird nur noch selten praktiziert.
In der Praxis kommen auch Kombinationen dieser Vertragsmodelle vor, beispielsweise die grenzüberschreitende Leiharbeit mit entsandten Beschäftigten.
57 Prozent der im Jahr 2018 abgeschlossenen Beschäftigungsverhältnisse in der Schlachtung und Fleischverarbeitung dauerten weniger als ein Jahr. Wenn man dabei nur die ausländischen Beschäftigten betrachtet, haben über 70 Prozent von ihnen ihren Job innerhalb eines Jahres verloren. Diese Zahlen werden auch durch Erkenntnisse aus der Beratung bestätigt: Viele Mitarbeiter kündigen selber nach kurzer Zeit und berichten, die Arbeitsbedingungen seien viel schlechter als das, was ihnen versprochen wurde.
Andererseits sind viele von ihnen auch willkürlichen und maßregelnden Kündigungen ausgesetzt: wenn sie nicht schnell genug sind, länger krank werden oder einen Arbeitsunfall haben, wenn sie sich gegen willkürliche Lohnabzüge wehren, über schlechte Standards und überhöhte Mieten in ihren Unterkünften klagen oder auch nur weil sie Gewerkschaften oder Beratungsstellen aufsuchen.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2018), Sonderauswertung für den DGB
Beschäftigte von Werkvertragsunternehmen sind in der Regel keine Saisonarbeiter*innen. Sie haben einen deutschen Arbeitsvertrag und auch ihren Lebensmittelpunkt – und den ihrer Familien - nach Deutschland verlagert. Sie möchten sich hier ein Leben aufbauen und bleiben auch nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes auf der Suche nach einer Neueinstellung. Allerdings verhindern die soziale Isolation der Beschäftigten und ihre Abschottung in Massenunterkünften und Arbeitskolonnen, wo sie mit eigenen Landsleuten leben und arbeiten, jegliches Erlernen der deutschen Sprache.
Selbst diejenigen, die sich bemühen, einen Sprachkurs zu besuchen, können dort aufgrund der extrem langen Arbeitszeiten und der langen Wegezeiten nicht nachhaltig teilnehmen. Schulleiter*innen aus betroffenen Kommunen berichten, dass sie große Schwierigkeiten haben, mit Werkvertragsbeschäftigten Elterngespräche zu führen, weil Subunternehmen regelmäßig spontane Überstunden und Extraschichten verordnen oder Arbeitszeiten und Einsatzpläne kurzfristig verändern. Es gilt: Wer nicht jederzeit zur Verfügung steht, verliert den Job.
Die Arbeit in den großen Fleischbetrieben verläuft – anders als in den Handwerksbetrieben - am Fließband und in stark standardisierten Arbeitsschritten. Der Anteil an Fachkräften an der Gesamtbeschäftigung sinkt, während der der Beschäftigten in Einfachtätigkeiten steigt. Besonders deutlich ist dies bei der Schlachtung von Geflügel, wo der Anteil von Fachkräften seit 2013 um mehr als 13 Prozent abgenommen hat. Mittlerweile übt jede*r vierte sozialversicherungspflichtige*r Arbeitnehmer*innen eine Helfer-Tätigkeit aus. Branchenübergreifend liegt dieser Anteil lediglich bei 15,5 Prozent. Die Ausbildungszahlen in der Branche haben sich seit 2008 mehr als halbiert.
Erkenntnisse der Gewerkschaften und Beratungsstellen bestätigen: Vor allem bei den Beschäftigten von Werkvertragsunternehmen handelt es sich meist um Personen, die für diese Tätigkeit weder Erfahrung noch Ausbildung mitbringen. Dennoch müssen diese bereits nach einer kurzen Anlernphase – oder manchmal auch komplett ohne Einweisung – gefährliche Arbeiten übernehmen. Der enorme Druck, der bei den Subunternehmen herrscht, führt in vielen Fällen dazu, dass Mitarbeiter unerlaubte Griffe vornehmen und sich (teils sehr schwer) verletzen.
Nachdem sich in der deutschen Fleischindustrie bisher schon über tausend Beschäftigte mit dem Corona-Virus infiziert haben, hat die Bundesregierung ein Gesetzesentwurf für ein „Arbeitsschutzkontrollgesetz“ vorgelegt. Ein Kernpunkt der Vorschläge der Bundesregierung ist, dass die Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischwirtschaft verboten werden sollen.
Der DGB begrüßt diese Einschränkung des Einsatzes von Fremdpersonal in den Betrieben der Fleischwirtschaft grundsätzlich und teilt die Rechtsauffassung der Bundesregierung und mehrerer Rechtsgutachten, dass diese mit den unions- und verfassungsrechtlichen Bestimmungen vereinbar ist. Von diesem Verbot sollen allerdings Handwerksbetriebe mit unter 30 Beschäftigten ausgenommen werden. Dabei sieht der DGB noch zwei notwendige Nachbesserungsbedarfe: Erstens ist die Definition des Handwerks, wofür die Ausnahme gelten soll, in dem Gesetzesentwurf viel zu weit gefasst. Zweitens sollen bei der Ermittlung des Schwellenwertes von 30 solche Beschäftigte nicht dazu gezählt werden, die „nur kurzzeitig tätig sind“ – mit anderen Worten: Saisonbeschäftigte, Kurzzeit-Befristete oder kurzzeitig eingesetzte Solo-Selbstständige, Leiharbeitnehmer*innen oder Mitarbeiter*innen von Werkvertragsfirmen. Diese Regelung setzt falsche Anreiz e gegen langfristige Beschäftigungsverhältnisse und öffnet Tür und Tor für Umgehungsstrategien.
Ebenfalls kritisch zu bewerten ist, dass für die genannten Handwerksbetriebe auch eine Ausnahme von der nun einzuführenden, verpflichtenden, elektronischen Arbeitszeiterfassung erfolgen soll. Diese Ausnahme ist nicht nachvollziehbar; spätestens nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 14. Mai 2019, aus der eine Pflicht aller Arbeitgeber (unabhängig von der Unternehmensgröße!) resultiert, ein verlässliches, objektives und zugängliches Zeiterfassungssystem einzurichten, mit dem jede Arbeitsstunde aller Beschäftigten erfasst werden kann.
In allen diesen Punkten erwartet der DGB eine Verbesserung des Gesetzesentwurfs durch die Debatte in Bundestag und Bundesrat.