Deutscher Gewerkschaftsbund

14.12.2021

Ist die EU demokratisch genug?

von Sophie Pornschlegel, Senior Policy Analyst, European Policy Centre

Die Debatte rund um das Demokratiedefizit der EU zieht sich bereits seit Jahren und ist wenig zielführend. Die EU leidet weniger unter ihrer eigenen institutionellen Architektur als unter den politischen Machtverhältnissen in den Mitgliedstaaten, die sich kaum für das gemeinsame europäische Interesse einsetzen. Diese Machtverhältnisse führen dazu, dass die EU nicht mehr die Ergebnisse liefern kann, die wir brauchen. Sie ist in Krisen nicht handlungsfähig – weil sie von den Mitgliedstaaten nicht handlungsfähig gemacht wird.

Mehrere Europafahnen wehen auf einer Demonstration im Wind

DGB

Oft reden wir in einer sehr idealisierten Form über die EU. Föderalisten wünschen sich eine EU, die einem Nationalstaat gleicht: Mit einer EU-Kommission als Regierung, mit einer Präsidentin, die als Spitzenkandidatin Kampagne macht und gewählt wird, weil ihre Partei die EP-Wahlen gewonnen hat; mit einem europäischen Parlament, das Gesetzgebung vorschlagen kann; und mit einem Rat, der zu einer "zweiten Kammer" wird, ähnlich dem französischen Senat oder dem Bundesrat. Aus dieser Perspektive leidet die EU unter einem Demokratiedefizit, denn ihre Verfechter wünschen sich, dass die EU ein (föderaler) Staat wird. Aus diesem Verständnis leitet sich oft die Diskussion über die "europäische Identität" ab, die die (vorpolitische) Grundlage für diesen Staat schaffen soll.

Aus der anderen Perspektive – vergleichend mit einer internationalen Organisation – ist die EU bereits viel demokratischer als es im Rahmen von zwischenstaatlichen Kooperationen üblich ist. Die EU verfügt über eigenständige Institutionen, die die Interessen der EU vertreten, wie beispielsweise die europäische Kommission und die zahlreichen EU-Agenturen; sie verfügt auch über ein Parlament und direkte Wahlen; und schließlich über einen eigenständigen Gesetzgebungsprozess und ein unabhängiges Justizsystem. Aus dieser Perspektive ist die EU die demokratischste internationale Organisation, die es jemals gab.

Konzepte und Realität

Diese beiden Perspektiven bleiben aber abstrakte politische Konzepte, die im Rahmen der wissenschaftlichen EU-Integrationsdebatten geführt werden, doch mit der Realität in Brüssel wenig zu tun haben. Genauso wie man in Berlin sich selten die Frage stellt, ob der Bundestag nun mehr oder weniger Macht haben sollte, so arbeitet man in Brüssel mit dem politischen System, das zur Verfügung steht. Und doch gibt es ein grundlegendes Problem: Die nationalen Akteure, die in diesem System eine übergeordnete Rolle spielen, haben oft noch Schwierigkeiten, die doppelte Legitimation der Union von Staaten und Bürger*innen zu verstehen. Die "sui generis" Form ist weiterhin kein vertrautes Konzept, sodass man immer wieder in Kategorien der nationalen Demokratie verfällt.

Darüber hinaus wird die Rolle des Rates aus nationaler Sicht oft unterschätzt. Viele Gesetzgebungsprozesse hängen weniger an der mangelnden Ambition der EU-Kommission als am mangelnden politischen Willen der Mitgliedsländer, die sie im Rat blockieren. Mit 27 nationalen Interessen ist es auch nicht einfach, sich zu einigen. Doch problematisch für die Handlungsfähigkeit der EU ist die Tatsache, dass die nationalen Regierungen im Rat in erster Linie die nationalen Interessen ihrer Länder vertreten. Das ist demokratisch absolut verständlich: Die Regierungen wurden von deutschen, französischen, bulgarischen, polnischen und spanischen Bürger*innen gewählt und haben somit die Aufgabe, die Interessen ihres eigenes Volkes zu vertreten. Das europäische Interesse wäre in vielen Fällen auch im Interesse der nationalen Bürger*innen, aber politisch für die Staats- und Regierungschefs schwieriger durchzusetzen. Ein Beispiel hierfür sind die Diskussionen rund um den Green Deal. Zwar wäre es im Interesse aller, dass die 27 Mitgliedsländer schnell klimaneutral werden – und doch streitet man weiterhin darüber, ob Atomenergie nun doch als "klimafreundlich" eingestuft werden soll, weil es den französischen Interessen dient; oder man verzichtet auf einen effektiven CO2-Grenzausgleich, wenn die Automobilindustrie potenziell davon betroffen ist.  

Gemeinschafts- statt Merkel-Methode

Problematisch ist also viel weniger die Frage nach der Demokratie als die Handlungsfähigkeit der EU, die von den Mitgliedsländern der EU bestimmt wird. In den letzten Jahren gab es eine Verschiebung hin zu Politikfeldern, die eine "positive Integration" erfordern, also Integrationsschritte, die nicht nur den Abbau von Handelsbarrieren und Liberalisierungen beinhalten, sondern Regulierung, Investitionen und Besteuerung betreffen. Das sind Themen, die natürlich konfliktbeladen sind und resiliente politische Strukturen brauchen.

Eine handlungsfähige EU bekommt man aber nicht mit einer Zukunftskonferenz hin, die von wenigen Mitgliedsländern unterstützt wird und von Anfang an aus politischen Gründen nicht gewollt war. Mehr Input-Legitimität, also die Möglichkeit zur Artikulation und Kommunikation politischer Interessen, auf EU-Ebene zu schaffen ist zwar richtig und wichtig, aber keine nachhaltige Lösung für die derzeitigen Herausforderungen. Vielmehr sollte die nächste Bundesregierung schnell mit ihren wichtigsten europäischen Partnern zusammenarbeiten und Vorschläge für die großen Projekte – Green Deal, digitale Transformation – bis zu den nächsten EP-Wahlen 2024 erarbeiten. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung der EU-Kommission für diese Projekte den Rücken stärken, um sie erfolgreich über die Bühne zu bringen. Die Zeichen dafür stehen gut: Im Koalitionsvertrag haben sich die drei Parteien darauf geeinigt, zurück zur Gemeinschaftsmethode zu kehren, statt auf eine Kontinuität der Merkel-Methode der Absprachen außerhalb der EU-Verträge zu setzen.


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