Deutscher Gewerkschaftsbund

18.06.2010
Michael Sommer, Vorsitzender des DGB

Der Staat, Arbeitgeber und Unternehmen sind in der Pflicht

Ein Statement zum Zukunftsgipfel der Bundesregierung in Meseberg

1. Demografischer Wandel und soziale Sicherung

Beschäftigung gezielt fördern

Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Forderungen des gestrigen EU-Gipfels, die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen von 69 Prozent auf 75 Prozent  zu erhöhen, ernst zu nehmen. Insbesondere die Ausbildung und Übernahme junger Menschen, die gezielte Förderung der Frauenbeschäftigung und die nachhaltige Initiativen für die Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen, z.B durch die Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze, sind die zentralen Mittel dieses Ziel zu erreichen. Hier ist allerdings nicht nur die Politik gefordert sondern vor allem auch die Unternehmer und Arbeitgeber(-innen).

Eine neue Ordnung für die Arbeit

Der Arbeitsmarkt ist in im vergangenen Jahrzehnt verwahrlost. Die Überschrift war „Flexibilisierung“, das Ergebnis ist Chaos. Die Vertreter des so genannten Ordoliberalismus hatten ja Recht: Märkte schaffen Wohlstand, aber nur, wenn es gleichzeitig klare Regeln und einen vom Staat gesetzten Ordnungsrahmen gibt. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Ordnungspolitik für den Arbeitsmarkt. Es muss Schluss sein mit dem Wildwuchs aus Leiharbeit und Mini-Jobs, Scheinselbständigkeit und Dauerpraktika. Was die Menschen brauchen und wollen, ist nicht irgendeine Arbeit, sondern gute Arbeit. Gute Arbeit heißt, dass man davon leben kann. Gute Arbeit heißt, dass man damit planen kann. Und gute Arbeit heißt, dass das Selbstwertgefühl gestärkt wird und der Traum vom sozialen Aufstieg keine Illusion bleibt. „Leistung muss sich wieder lohnen“ hieß es ja im Wahlkampf. Ja, aber das heißt dann eben auch, dass der Lohn für die Arbeitsleistung stimmen muss. Und ein Lohn, der unter 8,50 Euro die Stunde liegt, reicht eben nicht für die erbrachte Arbeitsleistung eines Menschen.

Soziale Sicherungssysteme bewähren sich in der Krise

Die Alterung der Gesellschaft hat ohne Zweifel Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Aber wer jetzt einen Systemwechsel anstrebt, so wie der Gesundheitsminister mit der Kopfpauschale, befindet sich auf einem Irrweg. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind gerechter und stabiler als jede andere Form der Absicherung gegen Lebensrisiken. Sie waren automatische Stabilisatoren in der Krise, die es uns ermöglicht haben, die Krise so gut zu meistern. Gerade weil die sozialen Sicherungssysteme nicht eingebrochen sind, konnte die Konjunktur stabilisiert werden.

Bürgerversicherung jetzt

Und wir müssen die Einnahmebasis der sozialen Sicherungssysteme erweitern durch die Einführung einer Bürgerversicherung. Warum wir uns zum Beispiel in der Kranken- und Pflegeversicherung zwei Systeme leisten und ausgerechnet die Spitzenverdiener und Vermögenden aus der Solidarität entlassen, das ist rational nicht zu erklären. Wir brauchen die Bürgerversicherung, weil sie gerechter ist und weil sie die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme auf eine stabilere Basis stellt.

Ursachen der Finanzprobleme

Es ist nicht der demografische Wandel, der unsere sozialen Sicherungssysteme derzeit unter Druck setzt. Vielmehr wurden die Sozialkassen in den letzten Jahrzehnten immer wieder geplündert und zur Finanzierung von Aufgaben herangezogen, die eigentlich über Steuern hätten finanziert werden müssen. Auch die Ausweitung atypischer Beschäftigung, von der Scheinselbständigkeit bis zu den Dauerpraktika, schwächt die Sozialkassen. Wir brauchen wieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, um auch die Sozialkassen zu stabilisieren.

Rückschritte in der Familienpolitik

Der demografische Wandel ist keine Naturkatastrophe. Die Menschen werden älter und darüber sollten wir alle uns freuen. Problematischer ist die niedrige Geburtenrate. Es ist in der jüngsten Vergangenheit einiges unternommen worden, um Familien zu entlasten und bessere Rahmenbedingungen für Eltern zu schaffen. Leider dreht die Bundesregierung mit dem Sparpaket das Rad wieder zurück. Es ist unbegreiflich, dass in der Krise, die von schamlosen Bankern und Spekulanten verursacht wurde, ausgerechnet die Familien zur Kasse gebeten werden. Wer das Elterngeld kürzt und streicht, verschärft die Probleme des demografischen Wandels. Wir müssen mehr für die eigenständige Existenzsicherung von Frauen und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf tun, nicht weniger. Die Reformen der vergangenen Legislaturperiode waren ein erster Schritt, nicht der letzte. Das Ziel muss sein, dass die Arbeitswelt sich stärker an den Bedürfnissen der Familien orientiert und nicht umgekehrt.

Und nicht die Demographie ist das Problem unseres deutschen Rentensystems, sondern die systematische Schwächung des gesetzlichen Umlagesystems. Wie viel stabiler wäre die gesetzliche Rente, wenn allein auf ihre Stärke, auf das Modell der Erwerbstätigenversicherung und die Ergänzung durch Betriebs- und Tarifrenten gesetzt würde. Und die Folgen einer über Jahre falsch angelegten Rentenpolitik müssen wie immer die Beschäftigten ausbaden. Die Gewerkschaften wehren sich mit Recht gegen die Rente mit 67. Denn solange es keine Arbeitsplätze für die Älteren gibt, solange jemand mit über 50 zum alten Eisen gehört, ist die Rente mit 67 nur ein Rentenkürzungsprogramm zu Lasten der hart arbeitenden Menschen. Im Zusammenhang mit der Überprüfungsklausel und dem Rentenbericht der Bundesregierung im Herbst dieses Jahres erwarten wir, dass die Rente mit 67 zurückgenommen wird. Wir brauchen flexible Altersübergänge in die Rente und kein starres festhalten an einer falschen Altersgrenze.

Bildung und Qualifizierung

Es ist eine Binsenweisheit, aber man kann es gar nicht oft genug wiederholen: der Schlüssel für künftigen Wohlstand, gute Arbeit und gutes Leben in Deutschland, ist Bildung, Bildung, Bildung. Hier darf auf keinen Fall gespart werden, komme was wolle. Im Gegenteil, wir müssen noch mehr tun, in den Schulen und Universitäten, bei der beruflichen Bildung und der Weiterqualifizierung der Beschäftigten. Wir dürfen uns auch nicht damit abfinden, dass bestimmte gesellschaftliche Randgruppen, wie z.B. leider viele Migrantinnen und Migranten, abgehängt werden. Die Einwanderer und ihre Kinder dürfen nicht als Reserveheer für Niedriglohnjobs missbraucht werden. Für ein türkisches Arbeiterkind ist der Weg zum Hochschulabschluss oder zu einer guten Ausbildung natürlich weiter als für ein Lehrerkind. Ein Staat, egal ob Bund oder Land, darf das aber nicht achselzuckend hinnehmen, sondern muss alles tun, um diesem Kind eine faire Chance zu bieten und die Kluft überwinden.

2. Technologischer Fortschritt und Beschäftigung

Industrie und Dienstleistung zusammen denken

Deutschland ist eine Industrie- und Dienstleistungsnation. Daran darf nicht gerüttelt werden. Wir brauchen beides, eine kraftvolle und innovative Industrie und einen modernen Dienstleistungssektor. Eine De-Industrialisierung, wie sie Großbritannien in den achtziger Jahren erlebt hat, darf es hier niemals geben. Die Folgen einer einseitigen Konzentration auf den Dienstleistungssektor können wir in Großbritannien gerade beobachten. Wir brauchen die Industrie auch in Zukunft als Basis für unsere Volkswirtschaft. Und wir müssen mehr noch als bisher Industrie und Dienstleistung zusammen denken statt beide gegeneinander auszuspielen. Was wir brauchen sind vernetzte Strukturen der industriellen Entwicklung und eine koordinierte Industrie-, Dienstleistungs- und Handwerkspolitik, die die regionalen Wirtschaftsräume und die Wertschöpfungsketten stärkt, von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis zur Vermarktung und zum Vertrieb. Wichtig ist dabei, dass bei der Wirtschaftsförderung die Entstehung guter, qualifizierter Arbeitsplätze im Zentrum steht. So können wir übrigens auch der Abwanderung junger Menschen aus ländlichen Regionen, gerade in ostdeutschen Ländern, entgegenwirken.

Den technologischen Wandel gestalten

Die Gewerkschaften waren und sind keine Maschinenstürmer. Wir begrüßen den technologischen Fortschritt, weil er die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten enorm verbessert hat und weiter verbessern wird, wenn wir die Weichen richtig stellen. Aber aus dem technologischen Fortschritt folgt nicht automatisch sozialer Fortschritt, wie wir ihn wollen. Strukturwandel muss gestaltet werden, er darf nicht allein den Märkten überlassen werden. Das heißt: der Wandel braucht einen aktiven, handlungsfähigen Staat, der soziale und ökologische Aspekte beachtet. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in schrumpfenden Branchen arbeiten, können nicht von heute auf morgen in Wachstumsbranchen wechseln. Die innovativen Technologien der Erneuerbaren Energien zum Beispiel bieten großen Chancen für Wachstum, Beschäftigung und gute Arbeit. Aber dafür müssen wir die Menschen vorbereiten, sie ausbilden und qualifizieren. Das wird nicht allein der Markt richten, hier muss der Staat mit langfristigen Bildungsangeboten und einer Qualifizierungs-offensive seinen Beitrag leisten. Was wir brauchen, ist eine konzeptionell durchdachte Innovationspolitik, einen Plan, wie wir technologische und soziale Innovationen vorantreiben. Die Politik reagiert oft spontan und mit Schnellschüssen, wenn an irgendeiner Stelle Defizite sichtbar werden. Es wird z.B. versucht, mit Ad-hoc-Maßnahmen die Modernisierung in den Bildungs- und Forschungseinrichtungen voranzutreiben. Aber bisher hat sich die Politik nicht die Zeit genommen, einen kohärenten, langfristig angelegten Innovationsplan für Deutschland zu entwickeln, der dann über einen längeren Zeitraum abgearbeitet wird.

3. Nachhaltige Finanzpolitik

Es ist grundsätzlich richtig, den Haushalt zu konsolidieren. Aber die Bundesregierung macht drei Denkfehler.

Denkfehler eins: Einführung der Schuldenbremse

Die Krise zeigt: Der Staat muss gegensteuern und Geld in die Hand nehmen, wenn die Wirtschaft abschmiert. Und dafür braucht er den nötigen Spielraum. Die Politik engt ihren Spielraum mit der Schuldenbremse unnötig ein. Würde die Schuldenbremse jetzt gelten, hätte es keine Konjunkturpakete und keine verlängerte Kurzarbeit gegeben. Und das hätte bedeutet: Mehr Entlassungen, mehr Arbeitslose und mehr Belastung für die Sozialkassen. So spart man sich in eine Krisenspirale.

Denkfehler zwei: Sparen bei den Schwächsten

Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Beim Sparen muss es gerecht zugehen. Es kann nicht sein, dass dem Land – und vor allem den Arbeitslosen und Familien – eine Diät verordnet wird, während die Besserverdienenden sich weiter unbehelligt die Tortenstücke reinschaufeln. Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik ist ein lobenswertes Ziel, aber dazu müssen alle beitragen und die Vermögenden mehr als die, die ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen müssen.

Denkfehler drei: Verzicht auf Mehreinnahmen

Statt ungerecht zu kürzen muss die Politik endlich den Mut finden, gerecht einzunehmen. Wir sind kein Hochsteuerland. Wir hatten unter der schwarz-gelben Kohl-Regierung in den 80iger und 90iger Jahren eine Vermögenssteuer und einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent. Und da hat auch niemand das Gespenst des Sozialismus an die Wand gemalt. Wir brauchen gerade in der Krise die Solidarität derjenigen, deren prall gefüllte Konten trotz Krise weiter angewachsen sind. Und die Wohlhabenden sind auch bereit, ihren Beitrag zu leisten – dafür gibt es viele Signale. Die Regierung muss sich jetzt dazu durchringen, die Besserverdienenden an den Kosten der Krise zu beteiligen, auch wenn sie im Wahlkampf vielleicht noch etwas anderes erzählt haben. Wenn wir jetzt bei der Bildung, bei den Kindern, bei den sozial Schwachen oder bei Investitionen in die wirtschaftliche, soziale und ökologische Infrastruktur sparen, dann versündigen wir uns an der Zukunft.

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