Deutscher Gewerkschaftsbund

19.03.2019

100 Jahre ILO - ein bewegtes Jahrhundert

Die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) blickt dieses Jahr auf ihr 100-jähriges Bestehen zurück. Von ihrer Gründung auf der Versailler Friedenskonferenz über die Zwischenkriegsjahre, den Zweiten Weltkrieg und die ideologische Polarisierung des Kalten Krieges bis hin zur „Great Moderation“ der 1990er und 2000er Jahre hat sich die ILO immer wieder aufs Neue um die Interessen der arbeitenden Bevölkerung verdient gemacht. Heute muss sie ihre Wandlungsfähigkeit erneut unter Beweis stellen und den Herausforderungen des schwindenden Multilateralismus und der Digitalisierung mit einer sozialen Agenda begegnen.

Schriftzug 100 Jahre ILO 1919 bis 2019

ILO

Der historische Gründungszeitpunkt der ILO im Januar 1919 hätte bewegter nicht sein können. Der erste Weltkrieg hinterließ tiefe ökonomische und soziale Spuren der Zerstörung. In Russland hatte zwei Jahre zuvor der Zar abgedankt und es herrschte Bürgerkrieg. Die österreich-ungarische Doppelmonarchie war zerfallen. Auch im Deutschen Reich waren zum Ende des Krieges 2018 die Kriegsmüdigkeit und der Wunsch nach freiem gesellschaftlichem und kulturellem Leben wie auch einer politischen Neuordnung groß. Beginnend mit dem Matrosenstreik in Kiel Anfang November 1918 kam es zur Revolution und der Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten.

Der Vorläufer der ILO, die „Association for the Legal Protection of Workers“, die 1900 gegründet wurde, hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht, da den von Bürokraten einiger weniger Länder ausgehandelten internationalen Konventionen keine Beachtung zuteilwurde. 

„Der Weltfriede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden.“ Eingangssatz der Verfassung der ILO

Die Gründung der ILO im Rahmen der Versailler Friedensverhandlungen galt als erneuter Versuch einer internationalen Antwort auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit. Man wollte die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen global verbessern um damit dauerhaften Frieden zu sichern und dem Kommunismus zu entgegnen.

Die ehemaligen Kriegsparteien, die an einer neuen Weltordnung arbeiteten, räumten Arbeitgebern und Gewerkschaften einen Sitz am Verhandlungstisch ein und gestalteten die ILO damit als einzigartige, dreigliedrige Organisation, in der die Sozialpartner gemeinsam das gleiche Stimmrecht besitzen wie RegierungsvertreterInnen.

Man war sich auch damals im Klaren, dass die Herausforderung groß war, durch eine internationale Organisation weltweit faire Arbeits- und Sozialstandards zu schaffen. Albert Thomas, der erste Generaldirektor der ILO, erkannte, dass der Erfolg der ILO von politischem Willen und einem hohen öffentlichen Ansehen abhing. Andernfalls, so Thomas, wäre sie “nichts weiter als eine bürokratische Institution ohne wirkliche Autorität“.

ILO Grafik: Ratifizierung von Kernarbeitsnormen 2009-2019

ILO

Bis heute wurden in der ILO 189 Übereinkommen, 205 Empfehlungen und 6 Protokolle verabschiedet. Derzeit liegt die Gesamtzahl der Ratifizierungen bei über 8100. Die Ratifizierung der sogenannten Kernarbeitsnormen ist mit im Durchschnitt 172 Ländern sehr hoch. Diese acht Abkommen wurden mit der „Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit“ von 1998 als universell gültig und für alle Mitgliedstaaten der ILO verbindlich erklärt.

 

Die niedrigste Anzahl an Ratifizierungen weist bedauerlicherweise einer der wichtigsten Kernarbeitsnormen auf, nämlich Übereinkommen 87 zur Vereinigungsfreiheit (155 Ratifizierungen). Auch wichtige Industrie- und Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien, Singapur und die USA gehören zu den „Nicht-Ratifizierern“ der Konvention 87.

Die ILO ist ein einzigartiges internationales Sprachrohr im Kampf für freie gewerkschaftliche Betätigung. Als im Mai 1933 das Naziregime Gewerkschaftshäuser stürmte und freie Gewerkschaften verbot, lehnte die Arbeitnehmergruppe die Vertreter der Deutschen Arbeiterfront als legitime Arbeitnehmervertretung des Deutschen Reiches ab. Es war dieser Haltung und dem Mut des Gewerkschaftsführers Wilhelm Leuschner zu verdanken, dass eine Legitimierung bei der Internationalen Arbeitskonferenz verhindert werden konnte und die ILO sich als erste internationale Organisation offiziell gegen das Naziregime positionierte.

Bei der Internationalen Arbeitskonferenz 1944 in Philadelphia war das Ausmaß des zweiten Weltkrieges in seiner Grausamkeit noch kaum erfasst. Die Krisen der internationalen Finanzarchitektur der 1920er und 1930er Jahre waren noch genauso präsent in den Köpfen der Beteiligten wie die totalitären Auswüchse der kommunistischen und faschistischen Diktaturen. In der Erklärung von Philadelphia bekräftigte man daher erneut den Wert der menschlichen Arbeit („Arbeit ist keine Ware“) und die Zielsetzung der ILO, und benannte Freiheit der Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit wie auch eine stabile internationale Finanzarchitektur als wesentliche Voraussetzung für nachhaltigen Frieden.

Auch nach dem zweiten Weltkrieg waren die „wilden Zeiten“ keineswegs vorbei. Der Kalte Krieg verhärtete die ideologischen Gegensätze, in denen die ILO seit ihrer Gründung gefangen war. Die ILO bemühte sich um Universalität und damit auch um den Dialog mit kommunistischen Regierungen. Diese Haltung missfiel insbesondere der USA, die 1977 aus Protest für drei Jahre aus der ILO ausschied.

Nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks und dem Ende des Kommunismus trat auch die ILO in eine ideologisch weniger dialektische Phase ein. ArbeiterInnenrechte und Sozialstandards waren im Zeitgeist des „Thatcherismus“ hauptsächlich „Marktrigiditäten“, die der freien Entfaltung der Märkte und den damit versprochenen Wohlstandsgewinnen aller entgegenstanden. Die ILO widmete sich nun vermehrt entwicklungspolitischen Themen. Auch die Frage der Umsetzung der ILO Standards kam stärker in den Fokus. Das „Decent Work“ Konzept war der Versuch die Arbeit der ILO in eine greifbare Form zu gießen und auf Kernziele herunterzubrechen.

Der Glaube an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ fand mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 ein jähes Ende. Die ILO reagierte vergleichsweise schnell auf die Krise und verabschiedete 2009 den „Global Jobs Pact“, der die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit infolge der Krise in den Vordergrund rückte. Vorausgegangen war bereits im Juni 2008 – auf dem Höhepunkt der Krise – die „Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“, in der sich die ILO erneut zu den vier Kernzielen der „Decent Work Agenda“ bekennt: Umsetzung der Kernarbeitsnormen, menschenwürdige Beschäftigungsmöglichkeiten mit ausreichendem Einkommen, Stärkung der sozialen Sicherheit, Stärkung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern.

Es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, bis offensichtlich wurde, dass die steigende Ungleichheit, die durch die Finanzkrise weiter befeuert wurde, nicht nur soziale und ökonomische Kosten mit sich bringt, sondern auch lange überwunden geglaubte politische Extreme heraufbeschwört. Die progressiven Kräfte und Befürworter demokratischer Grundsätze schwinden in weiten Teilen der Welt und mit ihnen RegierungsvertreterInnen in der ILO, die den VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen bislang als verlässliche Verbündete galten.

Der erstarkende Nationalismus trifft die ILO auch mittelbar durch eine schwindende Bereitschaft, das UN System finanziell auszustatten. Die UN bemüht sich, ihre Arbeit vermehrt an den Regierungen auszurichten und durch private Gelder zu finanzieren. Die ILO kann aber einer solchen Reform nicht gerecht werden, will sie weiterhin unabhängig und politisch arbeiten, und eine Anlaufstelle für Gewerkschaften sein.

In Anbetracht des digitalen Wandels der Arbeitswelt und der Sorge vieler Menschen vor den Umbrüchen ist eine starke ILO indes wichtiger denn je. Anlässlich ihres 100. Geburtstags hat sie eine „Weltkommission zur Zukunft der Arbeit“ ins Leben gerufen, die den Auftrag hatte, die politische Richtung für die Arbeitswelt von Morgen zu formulieren. In ihrem im Januar 2019 veröffentlichten Bericht stellte diese Kommission erste Weichen für eine mögliche Jahrhunderterklärung. Die Internationale Arbeitskonferenz im Juni wird zeigen wieviel politischer Wille vorhanden ist, die ILO weiter voranzutreiben.

Die ILO hat mit begrenzten Mitteln und schwierigem politischem Fahrwasser in den letzten 100 Jahren viel erreicht. Die Zeichen unserer Zeit, die von Vertrauensverlust, Nationalismus und digitalem Wandel geprägt sind, machen sie wichtiger denn je.

Carolin Vollmann (DGB)


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