Deutscher Gewerkschaftsbund

08.06.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Mit Andrea Nahles (SPD)

Reinhard Dombre, Andrea Nahles

Reinhard Dombre (DGB) und Andrea Nahles (SPD) im Mindestlohnbus. DGB/mindestlohn.de

Andrea Nahles (SPD) fuhr dieses Mal im Bus gemeinsam mit Reinhard Dombre (DGB) und beantwortete Fragen zum Mindestlohn und dem wachsenden Niedriglohnsektor. Andrea Nahles ist seit Oktober 2007 stellvertretende Vorsitzende der SPD und seit Oktober 2007 Sprecherin für Arbeits- und Sozialpolitik der SPD-Bundestagsfraktion. 

Wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 Euro auf dem Bus, in dem wir fahren?

Andrea Nahles: Es ist eine gut Idee, im Mindestlohnbus auf das wichtige Thema aufmerksam zu machen. Bei der Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro müssen wir uns aber fragen, was hat der Arbeitnehmer Brutto und Netto tatsächlich in der Tasche. Ein Arbeitnehmer erhält bei einem Stundenlohn von 7,50 Euro und bei einer Stundenzahl von 152 Stunden pro Monat ein Bruttogehalt von 1140 EUR. Wir sind uns im Klaren, dass die Mindestlöhne nur eine untere Markierung nicht ein “guter Lohn” ist, aber das ist mehr als viele Beschäftigte heute haben.

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Andrea Nahles: Seit Anfang der neunziger Jahre beobachten wir ein stetiges Ansteigen des Niedriglohnbereiches. Studien der Hans-Böckler Stiftung zeigen, dass der Handlungsbedarf weiterhin groß ist. So ist der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor von 15 Prozent Mitte der 1990er Jahre auf 22 Prozent im Jahr 2006 gestiegen. Rund 1,9 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen mit einem Bruttostundenlohn von fünf Euro oder weniger auskommen. Die Hoffnung, mit einer Änderung der Zumutbarkeitsregelungen die Schwelle für Arbeitslose zu senken, damit sie leichteren Zugang zu Arbeit haben, hat nur zum Teil funktioniert. Es hat auch zum Teil zu ungesicherten, schlecht entlohnten Arbeitsplätzen geführt. Deshalb müssen die Bedingungen im Niedriglohnbereich verbessert werden. Der Durchbruch gegen die Blockade der CDU/CSU bei Mindestlöhnen und durch das geänderte Mindestarbeitsbedingungengesetz reicht da noch nicht aus.

Welche Auffassung vertreten Sie dazu, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Andrea Nahles: Mindestlöhne sind eine Antwort. Die SPD hat mit viel Ausdauer und systematischer Arbeit den Weg für fairere Löhne beschritten. Wir haben mit dem Koalitionspartner verhandelt, um Branche für Branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen und Mindestarbeitsbedingungen gesetzlich zu regeln. Damit gibt es jetzt auch bei Pflegediensten, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, in der Abfallwirtschaft, bei den Bergbauspezialdiensten, in industriellen Großwäschereien und in der Weiterbildungsbranche jeweils einen allgemein verbindlichen Mindestlohn. Außerdem muss der Missbrauch von Leiharbeit bekämpft werden. Wir werden Leiharbeitsverhältnisse rechtlich besser absichern. Neben einer Lohnuntergrenze gehört dazu auch die Stärkung des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Nach einer angemessenen Einarbeitungszeit im gleichen Unternehmen soll der Grundsatz „equal pay“ uneingeschränkt gelten. Auch die konzerninterne Verleihung wollen wir begrenzen.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Andrea Nahles: Wir kämpfen für tariftreue Regelungen im Vergaberecht. Wir brauchen mehr Rechtssicherheit bei der öffentlichen Auftragsvergabe und Tariftreueregelungen als Instrument gegen Lohndumping und auch zur Herstellung von Wettbewerbsgerechtigkeit. Das gilt nicht nur für die Bauwirtschaft und die Textilindustrie sondern für fast alle Dienstleister. Kleine und mittlere Unternehmen sind oft ruinösen Preisdrückereien von Generalunternehmen ausgeliefert. Große Aufträge werden durch Tariftreueregelungen auch für den kleinen Mittelstand wieder attraktiv. Löhne dürfen nicht als Kostenfaktor eingesetzt werden. Der Wettbewerb darf nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden.

Welche Position vertritt die SPD im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bzgl. Existenz sichernder Mindestlöhne?

Andrea Nahles: Unsere Forderung bleibt auf dem Tisch: Wir wollen einen flächendecken gesetzlichen Mindestlohn. Diesen Weg gehen wir konsequent weiter. Wir werden in möglichst vielen Branchen allgemeinverbindliche tarifliche Mindestlöhne ermöglichen.Und wir werden überall dort Mindestarbeitsbedingungen vorantreiben, wo die Sozialpartner dazu aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage sind. Unser Ziel ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, der eine unterste Grenze markiert, unter die Löhne nicht fallen dürfen. Eine Mindestlohn-Kommission soll ihn festsetzen. Wir gehen davon aus, dass ein Mindestlohn von 7,50 Euro zur Zeit eine sinnvolle Orientierungsmarke ist.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Andrea Nahles: Wenn man nicht davon leben kann, ja. Arbeit ist Selbstverwirklichung und bedeutet Teilhabe. Arbeit muss aber auch »anständig« bezahlt werden. Für uns ist Arbeit mehr als Gelderwerb. Deshalb darf die Vergütung von Arbeit die Würde nicht verletzen. Demokratie bedeutet für uns auch klare soziale Rechte und die Wahrung der Menschenwürde – gerade auch im Arbeitsleben. Dazu gehören starke Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einen wirkungsvollen Kündigungsschutz und eine funktionierende Mitbestimmung, sowie eine Stärkung und uneingeschränkte Sicherung der Tarifautonomie.

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Andrea Nahles: Nur mit vernünftigen Mindestlohnregelungen kann der Konsens der sozialen Marktwirtschaft wieder hergestellt und sichergestellt werden, dass auch die Unternehmen in einer sozialen Verantwortung für ihre Belegschaften einstehen. Mindestlöhne verhindern zudem, dass der Staat dauerhaft als Lohnzahler in Anspruch genommen wird. Mindestlöhne sichern also Arbeitsplätze und gefährden sie nicht. Denn zum Erfolgsrezept unserer sozialen Marktwirtschaft gehört darüber hinaus, besser statt billiger. Wir wollen, dass der Wettbewerb durch Leistung, also durch Qualität, hohe Produktivität, Innovation und Service entschieden wird und nicht durch einen Kampf um den niedrigsten Lohn. Einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne wird niemand gewinnen.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Andrea Nahles: Im Gegenteil, man darf nicht vergessen, dass Mindeststandards nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping schützen. Sie schützen auch die Unternehmen – und zwar insbesondere kleine und mittlere Betriebe – vor einem Vernichtungswettbewerb durch Konkurrenten, die mit Dumpinglöhnen arbeiten. Mindestlöhne sichern die Konkurrenzfähigkeit und das Überleben heimischer Betriebe. Die positiven Erfahrungen im Baubereich belegen dies. Mindestlöhne sichern also Arbeitsplätze und gefährden sie nicht, wie von Union und FDP immer wieder behauptet.

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Andrea Nahles: Nein sie waren klug beraten, denn für das Zusammenleben in Europa benötigen wir Spielregeln, die faire Löhne und faire Arbeitsbedingungen garantieren. Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Mit den Mindestlohnregeln schaffen wir zum einen die Möglichkeit, Sozial- und Lohndumping einzudämmen und zum anderen Rahmenbedingung, die einen fairen Wettbewerb in Europa sichern.

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?Andrea Nahles: Wir brauchen dringend in allen Branchen verbindliche Rahmenbedingungen und vor allem Lohnuntergrenzen. Nur mit gesetzlichen Regelungen wird der Prozess zur Sicherung von Mindestarbeitsbedingungen weitergehen. Wir schließen in Europa auf. Wir sind aber noch nicht am Ziel. Am Schluss - und damit lasse ich keine Zweifel aufkommen – wird ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn stehen. Die SPD ist die Partei des Fortschritts. Fortschritt, zur Not auch des Kleinen, solange das Ziel des Mindestlohnes nicht aus dem Auge verloren wird.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Andrea Nahles: Ja, wir die SPD wollten Zeitarbeit vor Ausbeutung schützen und einen Mindestlohn für die Branche im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festlegen. Die Union lehnte es ab, die Branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen. Dies war auch ein Affront gegen die Menschen in der Zeitarbeit. Gerade in der Zeitarbeit brauchen wir Verbesserungen für die Beschäftigten. Lohndumping ist in dieser Branche, die ohnehin schon anfällig dafür ist, besonders zu bekämpfen.

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, z.B. Niedriglohnbeschäftigte?

Andrea Nahles: Ja, unsere Forderung lautet Qualifizieren statt Entlassen. Nach diesem Prinzip wurden auf Initiative der SPD Unternehmen die Chance gegeben, die Krise nicht nur zu überstehen, sondern mit einer besser qualifizierten Belegschaft gestärkt hervorzugehen. Mit den Regelungen zum Kurzarbeitergeld wurden zusätzliche Möglichkeiten für eine finanzielle Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen über den Europäischen Sozialfond oder über die Initiative WeGebAU geschaffen. WeGebAU fördert Weiterbildungskosten von un- und angelernten Arbeitnehmern, etwa um einen Berufsabschluss nachzuholen. Ältere Beschäftigte werden, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt während der Qualifizierung fortzahlt, gefördert. Für alle Beschäftigten, die besonders von Arbeitlsosigkeit bedroht sind, auch für Jüngere, deren letzte Aus- oder Weiterbildung mehr als vier Jahre zurückliegt, werden Weiterbildungsmassnahmen gefördert. So werden z.B. Umschulungen von der Pflegehelferin zur ausgebildeten Pflegefachkraft wieder durch die BA finanziert. Durch die Konjunkturprogramme und beispielsweise das kommunale Investitionspaket oder durch die Mittel für die energetische Gebäudesanierung und auch durch die öffentlichen Aufträge im Hoch- und Tiefbau schaffen und erhalten wir Arbeitsplätze.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Andrea Nahles: Ja sicher, wir brauchen ein Verbot von sittenwidrigen Löhnen. Wir brauchen verlässliche Regeln für einen flächendeckenden Mindestlohn zum Schutz gegen Lohndumping. Vor allem aber brauchen wir starke Gewerkschaften für faire Löhne. Es hat nichts mit der viel beschworenen "freien Marktwirtschaft" zu tun, wenn Arbeitnehmern nur 4,00 Euro oder weniger gezahlt wird und sie zusätzlich staatliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Diese Subventionierung von schlecht zahlenden Unternehmern führt zu Wettbewerbsverzerrungen. Die Zeche zahlen auch die seriösen Unternehmen. Gerade in der Krise muss die Binnennachfrage stabilisiert werden. Dazu trägt die gesetzliche Lohnuntergrenze verbindlich bei.


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