Deutscher Gewerkschaftsbund

20.05.2009
Mindestlohn-Interview

Rainer Brückers: Es ist eine Wahnsinnslohnkonkurrenz eingetreten

Rainer Brückers

Rainer Brückers, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Arbeiterwohlfahrt (AWO) AWO

Rainer Brückers ist  geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Arbeiterwohlfahrt (AWO), einem der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Die Arbeiterwohlfahrt engagiert sich im sozialen Bereich und ist Träger vieler Einrichtungen wie etwa zur Altenhilfe oder Kindertagesstätten. Die Redaktion Mindestlohn sprach mit ihm über den Mindestlohn in der Pflege.

Herr Brückers, die Arbeiterwohlfahrt hat sich besonders für die Einführung eines Mindestlohns in der Pflegebranche engagiert. Nun wurde ein Jahr nachdem die AWO gemeinsam mit der ver.di den Antrag zur Aufnahme in das Entsendegesetz stellte, vom Bundesrat der Weg für einen Mindestlohn freigemacht. Sind Sie zufrieden?

Rainer Brückers: Ja, wir sind sehr zufrieden. Das ist für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege eine ganz besonders gute Entwicklung, denn die Löhne in der Pflege, insbesondere in den nicht qualifizierten Bereichen, sind in den letzten Jahren drastisch nach unten gegangen und es ist eine Wahnsinnslohnkonkurrenz eingetreten, die auch durch osteuropäische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in dem Sektor tätig geworden sind, verstärkt wurde. Diese Lohndumping-Entwicklung musste gestoppt werden. Und insoweit ist dieses Gesetz für den Bereich der Pflege nur zu begrüßen.

Der Mindestlohn in der Pflegebranche war bis zuletzt umstritten, auch weil sich die kirchlichen Träger gegen einen Mindestlohn in der Branche ausgesprochen haben und die Refinanzierungsfrage höherer Lohnkosten im Raum stand. Warum ist Ihres Erachtens ein Mindestlohn in der Pflege so wichtig?

Rainer Brückers: Er ist gerade wegen der Refinanzierungsproblematik wichtig, denn wenn nicht klar ist, dass ein Mindestlohn für alle gelten muss, versuchen die Kostenträger die Pflegesätze immer weiter zu drücken. Sie weisen dann darauf hin, dass andere Träger, die sich nicht an Tarifverträge halten und Löhne weit unterhalb des Existenzminimums zahlen, auch in der Lage wären, Pflege zu erbringen. Mit dem Gesetz zum Mindestlohn in der Pflege erreichen wir wenigstens einen fairen und ordentlichen Wettbewerb der Anbieter, bei dem es darum geht, wer die beste Pflege anbietet.

In der Pflegebranche arbeiten etwa 450.000 Beschäftigte. Laut Untersuchungen des Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) arbeitet bereits jeder Dritte davon für sittenwidrige Löhne. Neue billige Geschäftsmodelle wie das des Unternehmens McPflege sorgten für allgemeine Empörung. Welche Folgen haben Niedriglöhne und der zunehmende Dumpingwettbewerb langfristig in der Pflegebranche?

Rainer Brückers: Der Dumpingwettbewerb führt dazu, dass die Qualität der Pflege in dem von allen Beteiligten gewünschten Umfang nicht mehr erbracht werden kann. Vor allen Dingen nicht mehr von denen, die sich an Tarifverträge halten. Dumpinglöhne würden außerdem langfristig das Herausstehlen aus Tarifverträgen weiter voran treiben und sie hätten die Lohnspirale noch weiter nach unten gedreht.

Kirchliche Arbeitgeber haben ihre Löhne bisher immer nach eigenen Richtlinien festgelegt. Um dieses Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zu wahren, hat der Bundestag für die Pflegebranche ein besonderes Verfahren zur Festlegung eines Mindestlohns beschlossen. Eine achtköpfige Kommission bestehend aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern der kirchlichen und nichtkirchlichen Pflegeanbieter verhandeln gemeinsam über eine angemessene Höhe. Wann sollen erste Gespräche dazu stattfinden und wie schätzen Sie den Erfolg der Verhandlungen ein?

Rainer Brückers: Die Erfindung dieser Kommission ist angesichts der Besonderheit dieser Branche genial. Denn es gibt keinen Tarifvertrag, den man entsprechend anderen Branchen für allgemein verbindlich hätte erklären können. Dazu kommt, dass die kirchlichen Verbände fast 50 Prozent aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege beschäftigen. Von daher hätte man sie auch nicht in ihrer Besonderheit übergehen können. Klar ist bereits, dass vier Sitze in der Kommission von kirchlichen Trägern besetzt werden. Zwei werden sicherlich von der Gewerkschaftsseite zu besetzen sein und zwei von der Arbeitgeberseite. Da ist noch nicht klar, wer die Vertreter sind. Wir beanspruchen einen Sitz, weil wir diejenigen waren, die das mit ver.di beantragt haben und außerdem sind wir der Verband, der tarifvertraglich die meisten Mitarbeiter beschäftigt. Letztlich muss aber die Weisheit des Bundesarbeitsministers entscheiden, wie die Kommission zusammengesetzt sein wird und unter welchen Kriterien das erfolgt.

Demzufolge wissen Sie noch nicht genau, wann sich die Kommission das erste Mal treffen und beraten wird?

Rainer Brückers: Wir warten bereits darauf, wann zu einer ersten konstituierenden Sitzung der Kommission geladen wird.

Welche Tätigkeiten im Pflegebereich sollen mit einem Mindestlohn belegt werden?

Rainer Brückers: Das muss die Kommission als erstes klären. Als wir vor gut eineinhalb Jahren die Diskussion ins Leben gerufen haben, haben wir insbesondere für die Pflegehilfskräfte einen Mindestlohn gefordert. Darüber hinaus gibt es aber noch die Frage, ob nicht auch Hauswirtschaftskräfte, soweit sie in der Pflege tätig sind, einbezogen werden müssen. Das hat den Hintergrund, dass zunehmend unter dem Deckmantel der Haushaltshilfe ungelernte auch aus dem Ausland kommende ungelernte oder gelernte Kräfte sozusagen faktisch Pflegearbeit machen. Das kann man schlichtweg nicht mehr kontrollieren. Deshalb ist es uns wichtig, dass sobald eine pflegerische Tätigkeit im Spiel ist, die gesetzliche Mindestlohnregelung greift.

Bleiben wir einmal bei den pflegerischen Hilfskräften, für die höchstwahrscheinlich ein Mindestlohn vereinbart wird. Welche Höhe hält die AWO für diese Tätigkeit für angemessen?

Rainer Brückers: Wir haben ja Tarifverträge, in denen für diese Tätigkeit eine Lohnhöhe festgelegt ist. Man wird sich nicht weit von dieser derzeitigen Höhe, die zwischen 9,00 und 9,50 Euro pro Stunde liegt, entfernen können.

Also halten Sie die Chancen auch für realistisch, dass sich der Mindestlohn auch ungefähr in diesem Rahmen bewegen wird?

Rainer Brückers: Ja.

In dem „Bündnis soziales Deutschland“ spricht sich die AWO gemeinsam mit der ver.di, der NGG, dem SoVD und dem VdK für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn aus? Warum braucht Deutschland einen Mindestlohn?

Rainer Brückers: Es gibt immer mehr Kinder, die in Haushalten leben müssen, die unterhalb der Einkommenssicherungsgrenze liegen oder eben knapp da drüber. Diese Tendenz ist steigend. Aus dieser Erkenntnis heraus sagen wir, es muss sicher gestellt sein, dass derjenige, der arbeitet mindestens so viel Geld bekommt, dass er damit oberhalb der Existenzsicherungsgrenze für sich und seine Familie sorgen kann. Das ist eine gesellschaftspolitische Forderung von uns, die nicht aus der tarifpolitischen Sicht heraus erwachsen ist, sondern aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit. Derjenige der arbeitet, derjenige der am Erwerbsleben teilnimmt, muss die Chance haben, deutlich über der Grundsicherung zu liegen und sich selbst und seine Familie ernähren zu können.

Warum setzt sich die AWO für eine allgemeine Lohngrenze von 7,50 Euro pro Stunde und nicht für die branchenspezifischen Lösungen ein?

Rainer Brückers: Wenn man zu einem gesetzlichen Mindestlohn kommt, werden branchenspezifische Lösungen nach wie vor bleiben, sowohl was die Mindestlohngrenzen angeht als auch was die tarifliche Vergütung angeht. Der gesetzliche Mindestlohn soll ja nur verhindern, dass Menschen, die eben nicht eindeutig einer Branche zugeordnet werden können oder aus anderen Gründen durch das Raster fallen, mit einer verbindlichen Lohnuntergrenze abgesichert sind. 7,50 Euro sind außerdem mit Sicherheit nicht die Marge, die Branchen davon entbindet, zu schauen, ob in ihren Bereichen eben nicht andere Mindestlöhne verabredet werden müssen, so wie wir das mit der Pflege versuchen jetzt auf den Weg zu bringen.

Die Arbeiterwohlfahrt ist 1919 aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen und ist eine Hilfsorganisation für alle sozial bedürftigen Menschen. Friedrich Ebert sagte, die „Arbeiterwohlfahrt ist die Selbsthilfe der Arbeiterschaft.“ Die AWO ist ein Wohlfahrtsverband, der sozial schlechter gestellte Menschen unterstützt. Was hat die AWO veranlasst, sich in eine politische Debatte einzuschalten?

Rainer Brückers: Die Selbsthilfe der Arbeiterbewegung ist eine Ära, die unseren Verband vor dem Verbot von 1933 im Wesentlichen geprägt hat. Wir sind hervorgegangen aus der Sozialdemokratie, waren Teil der sozialdemokratischen Partei und sind mit ihr 1933 verboten worden. Und erst nach 1945 sind wir als eigenständige Organisation wieder neu gegründet worden. Und seitdem sind wir auch nicht mehr in erster Linie Selbsthilfeorganisation der Arbeiterbewegung, sondern wir begreifen uns als wohlfahrtspolitischer Verband, der sozialpolitische Lobbyarbeit für diejenigen betreibt, die sich nicht ausreichend selbst artikulieren können. Wir fordern soziale Gerechtigkeit und setzen uns für Menschen ein, die der Hilfe der Gemeinschaft, der Gesellschaft oder des Staates bedürfen. Deshalb begreifen wir das Eintreten für einen gesetzlichen Mindestlohn als einen gesellschaftspolitischen Auftrag.

Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Deutschland im Vergleich mit anderen OECD- Ländern überdurchschnittlich weit auseinandergegangen. Welche weiteren Forderungen stellen Sie an die Politik, um die Schere zu verkleinern?

Rainer Brückers: Der Mindestlohn ist ein Baustein zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Aber geht es auch um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und vor allen Dingen um die Herstellung einer sozialen Infrastruktur, die es den Menschen ermöglicht, für sich selbst dafür Sorge zu tragen, indem sie in stabilen Arbeitsverhältnissen und in stabilen sozialen Verhältnissen ihr Leben gestalten können. Wir fordern deshalb insbesondere eine verstärkte Organisation von Bildungsmaßnahmen. Das hat für die Zukunftsgestaltung eines jeden Menschen eine entscheidende Bedeutung.

Welche Zukunftsvisionen verfolgt die AWO?

Rainer Brückers: Unser oberstes Ziel ist es, jedem Menschen unabhängig von seinem individuellen Vermögen eine größtmögliche Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Dies zu organisieren ist nur möglich, wenn es uns auch als Arbeiterwohlfahrt gelingt, mehr Verständnis für soziale Fragestellungen, Probleme und Lösungsvorschläge der Gesellschaft insgesamt zu erwirken. Mit den wenigen Menschen, die sich bislang um soziale Fragestellungen bemühen, werden wir das in Zukunft nicht hinkriegen. Unsere Vision ist es, dass gesellschaftliches Engagement genauso erste Bürgerpflicht wird wie das Wählen eines Parlamentes und zu einem festen gesellschaftlichen Bestandteil wird.


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