Deutscher Gewerkschaftsbund

19.09.2018

Starkes Vorhaben, ungewisse Wirkung? – Initiative der EU-Kommission „Zugang zum Sozialschutz“

Die Frage der Ausgestaltung europäischer sozialer Sicherheit wird in den Mitgliedsstaaten der EU naturgemäß nicht nur deshalb höchst unterschiedlich beantwortet, weil dieses Politikfeld bisher als Paradebeispiel einer eindeutig zugunsten der Mitgliedsstaaten ausfallenden Zuständigkeitsverteilung gilt: Die EU-Kommission hat durch die Schaffung der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Sozialen Sicherungssysteme der EU-Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit als Brückenbauer fungiert, um EU-Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Leistungen dieser Systeme auch grenzüberschreitend und diskriminierungsfrei zu ermöglichen.

Europäische Flagge auf einer Mauer mit Schatten einer Menschenkette

DGB/lightwise/123RF.com

Ein wichtiger sozialpolitischer Erfolg der EU: Im Zuge der in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive ausgebauten Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU wurde die Mobilität der Beschäftigten durch eine entsprechend grenzüberschreitende soziale Absicherung ergänzt. Diese Koordinierung ist jedoch nicht eine „Harmonisierung“, sprich: nicht mit einer qualitativen Veränderung und Angleichung der Leistungen und Funktionsweisen der sozialen Sicherungssysteme zu verwechseln. Obwohl die Kommission nach Art. 151 AVEU zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Mitgliedsstaaten auch mit eigenen sozialpolitischen Gesetzesinitiativen tätig werden kann, macht sie von dieser Kompetenz bisher nur zurückhaltend Gebrauch und belässt die politische Hoheit im Grundsatz bei den Mitgliedsstaaten. Genau deshalb ist eine „europäische“ soziale Sicherheit bisher auch eher als Stückwerk höchst heterogener Leistungen einzelner Sicherungssysteme zu verstehen. Worauf erkrankte Beschäftigte, arbeitslose Bürgerinnen und Bürger oder angehende Pensionäre tatsächlich Anspruch haben und wie umfangreich die für sie relevante soziale Absicherung ausfällt, wird je nach sozialpolitischem Gusto, sozialstaatlicher Ausprägungsart und Tradition der Mitgliedsstaaten ganz unterschiedlich ausgelegt.

Inakzeptable Zunahme von Altersarmut in der EU

Was diese Fälle hingegen vereint, ist ihr Bedarf nach einer effektiven, tatsächlich wirksamen Absicherung. Niedrige Rentenansprüche aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse, zu kurze und inadäquate Leistungsansprüche bei Arbeitslosigkeit, ein eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen aufgrund teurer, privat finanzierter Krankenversicherungssysteme oder die aus der fehlenden Versicherungspflicht resultierende existenzielle Gefährdung von Selbstständigen im Falle unvorhergesehener Krisen sind exemplarische, aber universelle Problemlagen, die alle EU-Bürgerinnen und Bürger betreffen können. Deshalb ist es auch unbestreitbar notwendig, eine verbindliche, europaweit gültige Mindestgrundlage für die soziale Absicherung der Bürgerinnen und Bürger zu verankern. Ein soziales Europa lässt sich wohl kaum konkreter und erfahrbarer machen als durch den grenzüberschreitenden Schutz vor Krankheit, Altersarmut oder den Folgen von Arbeitslosigkeit.

Gebot der Stunde – EU-Mindeststandards

Umso erfreulicher erscheint deshalb die im März von der EU-Kommission vorgelegte Initiative „Zugang zum Sozialschutz für Beschäftigte und Selbstständige.“ Diese schlägt einerseits einen Zugang zu allen gängigen sozialen Sicherungssystemen und deren Leistungen (Arbeitslosengeldbezüge, Krankengeldbezüge, Mutterschaftsgeld und gleichwertige Elterngeldbezüge, Altersbezüge, Invaliditätsbezüge, Bezüge im Zusammenhang mit Arbeitsunfähigkeit sowie Bezüge im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten) auf transparenter, angemessener, effektiver und übertragbarer Grundlage an. Andererseits zielt sie auch auf die Etablierung von Mindeststandards in diesen Bereichen ab, die durch die Mitgliedsstaaten nicht unterschritten werden sollen. Gerade aus gewerkschaftlicher Sicht klingt diese Ankündigung so begrüßenswert, dass man beinahe den entscheidenden Haken daran übersieht: Die EU-Kommission hat für ihre Initiative das denkbar schwächste Instrument gewählt, nämlich jenes einer „Ratsempfehlung“. Bedeutet: Die Mitgliedsstaaten der EU sind angehalten, sich im Rat über diesen Vorschlag zu einigen, und das ist sowohl aufgrund des Eingangs erwähnten Subsidiaritätsarguments – grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten für die Regelung zuständig – als auch wegen der Kostenwirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen bestenfalls ein Vorhaben mit hochgradig ungewissem Ausgang. Während insbesondere die europäischen Gewerkschaften auf möglichst verbindliche, legislativ wirksame Kommissionsvorschläge gedrängt haben, dürften sich über diesen unverbindlichen Ausgang nun vor allem jene Akteure freuen, die eine notorische Scheu vor öffentlich gesteuerten sozialen Sicherungssystemen und angemessene Sozialabgaben an den Tag legen. Diese Schwierigkeit erkennt sogar die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Ratsempfehlung, äußert sich allerdings mit keinem weiteren Wort zur wesentlichen Frage der Etablierung von Mindeststandards.

Trotz aller berechtigten Kritik an dieser sozialpolitischen Mutlosigkeit der Kommission: Eine Initiative zur Verbesserung des sozialen Schutzes für Beschäftigte und Selbstständige ist mehr als willkommen. Noch willkommener wird freilich der konkrete Erfolg sein, der hier erzielt wird. Dieser wird nun zu einem großen Teil vom öffentlichen Interesse in den Mitgliedsstaaten, die sich über Wohl oder Weh dieser Entscheidung einigen sollen, abhängen. Dass Mindeststandards für eine bessere soziale Absicherung übrigens nicht nur Sinn machen, sondern auch konzeptuell ausgereift und einsatzbereit sind, zeigt das – auch von der EU mitfinanzierte – Projekt „EMIN II.“ Es hat gemeinsam mit sozialpolitischen Akteuren aller EU-Mitgliedsstaaten ein Bündel von Maßnahmen und Strategien zur europaweiten Armutsbekämpfung entwickelt und verweist bereits seit Längerem darauf, dass nur verbindlich geltende Grundsätze zur sozialen Absicherung effektiv vor bedrohlich zunehmender Armut und Einkommensungleichheit in der EU schützen.

Robert Spiller, DGB-BVV


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