Deutscher Gewerkschaftsbund

30.01.2018

Steuerrecht und Mitbestimmung: Auf dem Weg nach Delaware?

Die aktuelle Entscheidung „Polbud“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte einen ruinösen Wettbewerb im Gesellschafts- und Unternehmenssteuerrecht auslösen und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer/-innen gefährden. Damit setzt er seine Rechtsprechung zum Vorrang der Binnenmarktfreiheiten vor nationalen Schutzvorschriften fort. Der Wettbewerb der Mitgliedstaaten mit den niedrigsten regulatorischen Vorschriften wird weiter befeuert.

Hammer auf Tisch vor Europafahne

DGB/zerbor/123rf.com

Kennen Sie den „Delaware Effekt“? Delaware ist der zweitkleinste Bundesstaat im Nordosten der USA mit knapp einer Million Einwohner. Laut Wikipedia produziert Delaware u.a. Geflügel, Sojabohnen und Molkereiprodukte. International bekannt ist der US-Bundestaat jedoch nicht für seine landwirtschaftlichen Produkte, sondern für seine vielen Briefkastengesellschaften, die in ihrer Summe die Anzahl der Einwohner übersteigen.
Der Grund für diese überraschende Entwicklung liegt im sogenannten Delaware-Effekt, mittlerweile ein geflügeltes Wort für den Wettlauf um das liberalste Gesellschafts- und wohl auch Steuerrecht innerhalb der USA. Diesen Wettlauf hat Delaware ganz offenbar gewonnen, dicht gefolgt von anderen Bundesstaaten und vermutlich stark zu Lasten der öffentlichen Steuereinnahmen in den Bundesstaaten, die steuerlich nicht so attraktiv sind.

EU-Niederlassungsfreiheit geht Unternehmensmitbestimmung vor

Was aber hat das mit Europa zu tun? Die Antwort lautet: „Leider sehr viel!“ Denn auch innerhalb der EU könnte ein Delaware-Effekt eintreten, wenn nicht schnell politisch gehandelt wird. Denn - abgesichert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit – stehen deutsche Unternehmensrechtsformen wie z. B. die Aktiengesellschaft oder die GmbH mit nationalen Rechtsformen anderer EU-Mitgliedsstaaten wie der britischen Limited[1], der niederländischen B.V. oder der Malta Ldt. im Wettbewerb. Diese Konkurrenz führt dazu, dass sich Unternehmen bereits heute durch die Wahl der Rechtsform die Rosinen aus dem europäischen Kuchen picken können. Ein gutes Beispiel für dieses Rosinenpicken ist – bezogen auf Deutschland (und Österreich) – die Vermeidung der Unternehmensmitbestimmung (Vertretung der Arbeitnehmer/innen im Aufsichtsrat).

In Deutschland unterliegen Kapitalgesellschaften der Mitbestimmung im Aufsichtsrat, wenn sie mehr als 500 Mitarbeiter/innen beschäftigen. In Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten stellen demokratisch gewählte Arbeitnehmervertreter/-innen sogar die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. In Österreich gibt es bei Aktiengesellschaften gar keine Mindestzahl an Beschäftigten. Hier können die Arbeitnehmer/-innen immer ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder stellen, sofern ein (Zentral-)Betriebsrat besteht.

Auch wenn die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland und Österreich insgesamt über eine hohe Akzeptanz in Gesellschaft und Politik verfügt, so zeigt sich doch, dass sich junge und wachsende Unternehmen zunehmend der Mitbestimmung entziehen. Diese antizipative Mitbestimmungsvermeidung findet in Deutschland statt, bevor die Unternehmen die Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 erreichen. Sehr beliebt ist dabei die Nutzung einer Rechtsform, die in einem anderen EU-Staat ins Handelsregister eingetragen ist, bzw. die Nutzung einer Mischform aus deutschen und ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die plc & Co KG. Insgesamt entziehen sich derzeit fast 100 Unternehmen den deutschen Mitbestimmungsgesetzen, wovon mehr als 300.000 Beschäftigte betroffen sind.

Anders sieht es hingegen bei länger existierenden Unternehmen aus, die im deutschen Handelsregister eingetragen sind und bereits der gesetzlichen Mitbestimmung unterliegen. Hier war es bislang unklar, ob eine deutsche GmbH ohne weiteres ihre Umwandlung beispielsweise in eine britische Limited verlangen konnte. Vermutlich haben große Rechtsunsicherheiten diese Unternehmen bislang davon abgehalten, diesen Weg zu wählen.

EuGH Entscheidung Polbud  - Vertiefung des Standortwettbewerbs

Die Entscheidung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit in der Rechtssache C-106/16 (Polbud) vom 25. Oktober 2017 stellt klar: Die EU-Binnenmarktfreiheiten gehen allen nationalen regulatorischen Beschränkungen vor, wenn sie nicht den Dreistufentest (Angemessenheit, Proportionalität und Zweckmäßigkeit) bestehen.

Der EuGH folgte damit nicht dem Vortrag der am Verfahren beteiligten Republik Österreich, dass die Niederlassungsfreiheit nur geltend gemacht werden könne, wenn die Sitzverlegung durch die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Zuzugsstaat begründet werde. Vielmehr hielt er fest, dass ein Unternehmen aufgrund des absoluten Vorrangs der Niederlassungsfreiheit im Binnenmarkt jederzeit seine Rechtsform umwandeln kann.

Dies bedeutet, dass bspw. eine Eintragung ins maltesische Handelsregister auch dann möglich ist, wenn ein vormals deutsches Unternehmen in Malta keinerlei Wertschöpfung erwirtschaftet. Einzige Voraussetzung ist, dass Malta einen solchen Rechtsformwechsel zulässt. Juristische Personen müssen somit lediglich ihre Postanschrift in einem anderen EU-Mitgliedstaat anmelden, um den Unternehmenssitz zu verlagern. Die Konsequenz aus dem Urteil ist klar: Der Weg für die Gründung von Briefkastengesellschaften ist geebnet.

Der EuGH geht aber noch weiter, indem er wieder einmal klar den Vorrang der Binnenmarktfreiheiten vor allen nationalen Schutz- und Regulierungsvorschriften betont: Es stellt  keinen Missbrauch dar, wenn eine Gesellschaft ihren Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen. Rechtsformenwechsel zur Vermeidung regulatorischer Schutz- und Mitbestimmungsvorschriften ist somit Teil des europäischen Verfassungsmodells.  

Startschuss für die Fortsetzung des Wettbewerbs im Bereich des Gesellschaftsrechtes und der Unternehmenssteuern – der Delaware-Effekt – ist die Folge. Estland - ebenfalls ein Land ohne Unternehmensmitbestimmung - wirbt schon jetzt damit, wie schnell und digital Unternehmen gegründet werden können. Die Auswirkungen auf die deutsche Mitbestimmung werden erheblich sein: denn die Mitbestimmung geht in dem Augenblick verloren, in dem die vormalige GmbH bspw. die Rechtsform der Malta Ltd. annimmt; denn Malta sieht für dort registrierte Unternehmen keine Unternehmensmitbestimmung vor.

Politisches Handeln ist JETZT gefragt!

Das alles sind keine guten Aussichten für ein soziales Europa und für seine Akzeptanz bei den Menschen und insbesondere auch bei den Arbeitnehmer/-innen. Soweit muss es aber nicht kommen!

Der EU-Gesetzgeber, die EU-Kommission, ist dringend gefordert, die schon seit Jahren immer wieder angekündigte Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung endlich vorzulegen. Damit kann ein harmonisierter Schutz von Arbeitnehmer/-innen- und Gläubiger/-inneninteressen geboten werden, der nicht von beinahe unbegrenzten Ermessensentscheidungen des EuGH abhängt. Des Weiteren ist es erforderlich, das derzeit innerhalb der EU-Kommission diskutierte aber noch nicht veröffentlichte Gesetzespaket zum Gesellschaftsrecht zu ergänzen.

DGB und Europäischer Gewerkschaftsbund haben die EU-Kommission daher bereits im Dezember 2017  aufgefordert,  durch entsprechende Gesetzgebung sicherzustellen, dass grenzüberschreitender Rechtsformwechsel nur dann stattfinden darf, wenn Satzungs- und Verwaltungssitz gemeinsam verlegt und die Mitbestimmungsrechte geschützt werden. Nur so kann es gelingen, den ruinösen Wettbewerb im Gesellschaftsrecht in der EU zu verhindern und dafür zu sorgen, dass der Delaware-Effekt auf den gleichnamigen US-Bundesstaat beschränkt und damit auf der anderen Seite des großen Teiches bleibt.

Auf nationaler Ebene wiederum muss die deutsche Bundesregierung dafür sorgen, dass Auslandsgesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland der deutschen Unternehmensmitbestimmung zwingend unterworfen werden. Notwendig hierfür ist allerdings, dass die Politik mutig und schnell handelt, da Untätigkeit einer Aufgabe des deutschen Systems der Abreitnehmer/-innenmitbestimmung gleichkäme.

von: Susanne Wixforth (DGB)


[1] Solange das Vereinigte Königreich Mitglied der EU und des Binnenmarktes ist.


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