Deutscher Gewerkschaftsbund

25.11.2010
standpunkt 5/2010

Aufschwung für alle

Die deutsche Wirtschaft wächst wieder. Produktions­anlagen arbeiten vielerorts an der Kapazitätsgrenze und Prognosen sagen voraus, dass dies so bleibt. Anlass zur Freude haben aber nicht alle.

Die deutsche Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Die Auftragsbücher füllen sich, die Produktionsanlagen werden hochgefahren und arbeiten vielerorts an der Kapazitätsgrenze. Zuversicht macht sich breit. Die deutsche Wirtschaft wächst - dank steigender Exporte, aber auch dank Konjunktur fördernder Maßnahmen wie Abwrackprämie und Kurzarbeit - kräftiger als alle Wirtschaftsinstitute zu Jahresbeginn erwartet haben. Der Wettlauf um die höheren Wachstumsprognosen hat seit dem Herbstgutachten des Sachverständigenrates neue Fahrt aufgenommen. Demnach soll die deutsche Wirtschaft für dieses Jahr um 3,7 und das kommende Jahr um 2,2 Prozent wachsen. Anlass zur Freude haben aber nicht alle.

Das kräftige Wachstum ist auch der Grund für die neue Steuerschätzung und soll Bund, Ländern und Kommunen bis Ende 2012 rund 61 Milliarden Euro mehr an Steuern bescheren als bislang erwartet wurde. Allein im Jahr 2010 werden rund 15,2 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen als in der Steuerschätzung vom Mai 2010 erwartet. Grund genug, Druck vom Kessel der öffentlichen Haushalte zu nehmen. Denn die deutschen Kommunen sind chronisch unterfinanziert. Steuergeschenke der vergangenen Jahre haben in den deutschen Kommunen Spuren hinterlassen. Klamme Kassen sind aber nicht vom Himmel gefallen. Allein in den letzten zehn Jahren wurden rund 33 Milliarden Euro weniger konjunkturunabhängige Steuereinnahmen verzeichnet. Das hatte Folgen: Holprige Straßen, marode Schulen und ein abgespecktes Kulturangebot prägen vielerorts das Bild unserer Städte und Gemeinden. Nun müssen sie auch noch die Folgen der Krise meistern. Ihnen droht in diesem Jahr das größte Haushaltsdefizit der Nachkriegsgeschichte, obwohl wir in diesem Jahr das höchste Wachstum seit der Wiedervereinigung erleben und der Bundeswirtschaftsminister vom „XL-Aufschwung“ redet. Die akute Finanznot vieler Kommunen zwingt die Verantwortlichen dazu, öffentliche Ausgaben zulasten der Bürgerinnen und Bürger zu kürzen und öffentliche Investitionen zurückzufahren. Obwohl das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) einen kommunalen Investitionsbedarf von insgesamt 704 Milliarden Euro für die Jahre 2006 bis 2020 und damit jährliche Investitionen in Höhe von 47 Milliarden Euro ermittelte. Obwohl unsere Städte und Gemeinden für 60 Prozent aller öffentlichen Bauinvestitionen sorgen und zudem den größten Teil der öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen bereitstellen. Unterlassung der kommunalen Investitionen würde nicht nur die Existenz unserer Städte ernsthaft gefährden, sondern die ohnehin schwachen binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte noch schwächer machen.

Kommunen benötigen dringend finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder. Die Steuermehreinnahmen können dafür verwendet werden. Davon aber keine Spur. Stattdessen schallen die Steuersenkungsrufe von Liberalen allen voran des Bundeswirtschaftsministers Brüderle durchs Land. Hoteliers und Atomlobby wurden bereits mit Steuergeschenken und Gratis-Gewinnen bedient, nun sind höhere Einkommensgruppen an der Reihe. Noch bremst die CDU. Die CDU will Mehreinnahmen für eine schnellere Konsolidierung verwenden. Obwohl die Finanzlage vieler Städte und Ge¬meinden alarmierend ist. Aber den Kommunen wird nicht unter die Arme gegriffen. Die öffentlichen Haushalte bleiben trotz der unerwarteten Mehreinnahmen weiterhin angespannt. Der Rotstift bleibt auch im Zeitalter Brüderles „XL-Aufschwungs“ die nackte Realität in den deutschen Kommunen. Unter dieser schwarz-gelben Regierung hilft nicht einmal ein kräftiges Wachstum gegen drohenden Zerfall des öffentlichen Lebens. Damit hilft das Wachstum vielen Kommunen nicht aus ihrer Notlage herauszukommen. Sie werden von der Teilhabe am kräftigen Wachstum ausgeschlossen. Gekürzt wird trotzdem. Aufschwung hin, Steuermehreinnahmen her.

Damit nicht genug: Auch an der Lohnfront bewegt sich wenig. Der „XL-Aufschwung“-Minister Brüderle plädiert zwar für höhere Löhne in der Industrie, leistet aber einen erbitterten Widerstand, wenn es um die Bekämpfung von politisch verursachten Armutslöhnen und der Eindämmung von prekären Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland geht. Konjunkturunabhängig sind rund 13 Millionen Menschen in Deutschland atypisch beschäftigt. Es sind rund ein Drittel aller Erwerbstätigen. Darunter sind über 9 Millionen Frauen. Vor allem junge Menschen leiden immer mehr unter prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Bandbreite der atypischen Beschäftigungsformen umfasst Teilzeit- und Leiharbeit, geringfügige Beschäftigungen und Ein-Euro-Jobs. Hier könnte die Politik mit der Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen diesem Missstand ein Ende setzen.

Davon rät uns der Bundeswirtschaftsminister ab. Auch die Arbeitslosigkeit bleibt trotz demographischer Glücksmomente auf einem hohen Niveau. Knapp 3 Millionen registrierte Arbeitslose; 1,4 Millionen befinden sich darüber hinaus in irgendwelchen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Wachstumsphasen und Krisen kommen und gehen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse bleiben. Damit ist ein Drittel der Beschäftigten vom Wohlstand ausgeschlossen. In einem der reichsten Länder der Welt. Dazu muss man auch die Arbeitslosen und Hartz IV-Empfänger zählen. Allein 7 Millionen Menschen beziehen Hartz IV. Armutslöhne machen nicht nur Menschen arm sondern auch öffentliche Kassen. Denn fast die Hälfte der Haushalte zahlt keine Steuern, weil sie so wenig verdienen.

Auch in der Sozialpolitik verzeichnet man in Deutschland eine menschenverachtende Debatte. Während Hartz IV-Empfänger unter chronischer Unterfinanzierung ihrer Haushalte leiden und keine menschenwürdige Existenz aufbauen können, überschreitet die Bundesarbeitsministerin von der Leyen mit 5 Euro Erhöhung der Sätze jedes sozialpolitische Schamgefühl. Noch unerträglicher ist die Haltung der Bundesregierung in der Frage der Hartz IV-Sätze für Kinder. Diese hätte man eigentlich kürzen müssen. Aber da auch unsere Bundesregierung ein Herz für Kinder hat, hat man davon ab¬gesehen. Auch in der Gesundheitspolitik und Alterspflege befindet sich Deutschland auf dem Holz¬weg. Der Bundesgesundheitsminister Rösler wird nicht müde, mit jeder neuen Reformankündigung unser soziales Gemeinwesen gründlich kaputt zu machen. Kopfpauschale - ob klein oder groß - und private Fürsorge sollen staatliche Leistungen erst ergänzen und langfristig ersetzen. Damit werden

Risiken jeglicher Art individualisiert. Jeder muss für sich sorgen. Berücksichtigt man, dass die Hälfte der deutschen Haushalte dank politisch geförderter Arbeitsmarktmaßnahmen kaum über Mittel verfügt sich gegen altersbedingte Risiken abzusichern, dann bedeuten solche Reformmaßnahmen auf lange Sicht den Abbau des Sozialstaats für diejenigen, die den Sozialstaat am dringendsten
benötigen.

Deutschland befindet sich mit dieser Bundesregierung in einer sozialen Schieflage. Das Totschlag¬argument „Wachstum“ zieht nicht mehr. Kaum jemand glaubt an eine bessere Zukunft. Der Glaubenssatz „mehr Wachstum bedeutet mehr Wohlstand für alle“ wird zur Farce. Damit aber steht die Legitimation unseres politischen Systems als Ganzes auf dem Spiel. Hier trägt einzig und allein die Bundesregierung die Verantwortung. Gewerkschaften und Sozialverbände weisen ständig auf die Missstände hin und liefern stets Lösungsansätze für die Politik. Es beginnt mit einem Umbau unseres Steuersystems und der Streichung von Steuerprivilegien für Vermögende und Wohlhabende mit dem Ziel, den Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und der öffentlichen Hand mehr Geld zukommen zu lassen, bis hin zur Austrocknung des Niedriglohnsektors mittels flächendeckender Mindestlöhne und gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Das schafft mehr Sicherheit für Menschen und fördert die binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte und erhöht die Legitimation unseres politischen Systems. Erst dann besteht die Perspektive, Konsolidierung der Haushalte über mehr Wachstum, mehr Beschäftigung, gerechte Verteilung und mehr Steuereinnahmen zu organisieren. Damit der Aufschwung endlich für alle da ist.


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