Deutscher Gewerkschaftsbund

17.05.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Mit Ottmar Schreiner (SPD)

Ottmar Schreiner

Reinhard Dombre (DGB) mit Otmar Schreiner (SPD) beim Interview im Mindestlohnbus. DGB/mindestlohn.de

Der SPD-Abgeordnete Ottmar Schreiner spricht im Mindestlohn-Bus mit Reinhard Dombre (DGB) über die Notwendigkeit eines Mindestlohns, um die Gerechtigkeitslücke endlich zu verkleinern.

Herr Schreiner, wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 EUR auf dem Bus, in dem wir fahren?

Ottmar Schreiner: Ich finde die Idee toll, weil so die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Problematik gelenkt wird, die für viele Menschen von existenzieller Bedeutung ist!

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 23 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Ottmar Schreiner: Die Gründe sind vielfältig. Zum einen übt die Massenarbeitslosigkeit einen enormen Druck sowohl auf die Beschäftigten als auch auf die Arbeitslosen aus, ihre Lohnforderungen und –ansprüche zurückzufahren. Dann üben natürlich atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie Leiharbeit und Mini-Jobs, einen massiven Druck auf die Niedriglohnbeschäftigung aus. Und zum anderen führt die Zumutbarkeitsregelung im Sozialgesetzbuch dazu, dass jede Arbeit unabhängig von der jeweiligen Qualifikation anzunehmen ist. Die Löhne dürfen dabei vom ortsüblichen Lohn bis zu 30 Prozent nach unten abweichen. Das ist leider Gesetz!

Welche Auffassung vertreten Sie dazu, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Ottmar Schreiner: Zunächst einmal brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro. Parallel hierzu müssen wir dafür sorgen, dass die Ursachen für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors behoben werden. Hierzu gehören die Eindämmung der Leiharbeit, die Abschaffung der Mini-Jobs und die Änderung der Zumutbarkeitsregelung. Als Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen haben wir zusammen mit den Jusos zu diesen Bereichen Anträge zum Wahlprogramm der SPD eingebracht. Ich wünsche mir, dass diese auf dem außerordentlichen Bundespar-teitag der SPD am 14. Juni 2009 eine Mehrheit finden.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Ottmar Schreiner: Wie schon gesagt, die Politik muss den Ordnungsrahmen, der in seiner jetzigen Form Niedriglohnbeschäftigung fördert, neu regeln. Hierzu gehört auch, dass die Gewerkschaften gestärkt und eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik unterstützt werden.

Welche Position vertritt die SPD im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bezüglich Existenz sichernder Mindestlöhne?

Ottmar Schreiner: Die SPD will gute Arbeit durch Stärkung der Arbeitnehmerrechte und gerechte Löhne und Einkommen sichern. Wir haben über die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes trotz Widerstand der Union erreicht, dass für über drei Millionen Menschen ein gesetzlicher, branchenbezogener Mindestlohn gilt. Diesen Weg werden wir auch weiter gehen. Unser Ziel bleibt die Schaffung einer generellen Lohnuntergrenze von 7,50 Euro.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Ottmar Schreiner: Die Verfassung garantiert das „physische“ Existenzminimum. Das soziokulturelle Existenzminimum, das über den verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch hinausgeht, soll neben der Existenzsicherung die Teilhabe am kulturellen Leben ermöglichen. Mit dem Sozialhilfesatz - so die offizielle Lesart - sei dieses Grundpostulat, nach der jedem Bedürftigen eine Grundversorgung zu gewähren ist, weit erfüllt. Zudem bestünde die Möglichkeit, Arbeitslöhne bei Unterschreiten des Existenzminimums aufzustocken. Insofern sei die Würde des Menschen gewahrt. Das Problem ist aus meiner Sicht eher politischer Natur, weil die intransparente Regelsatzbemessung nicht den realen Erfordernissen entspricht und - wie oben erwähnt - das Fundament für Niedriglöhne politisch geschaffen worden ist.

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Ottmar Schreiner: Es geht hier um grundsätzliche Fragestellungen, die wir wieder in den Mittelpunkt des politischen Diskurses stellen müssen. Es ist eine Verteilungsfrage: Wie soll das erwirtschaftete Wohlstandswachstum auf Kapital und Arbeit aufgeteilt werden? Die Zahlen zeigen, dass dieses Verhältnis sich eindeutig zugunsten von Gewinn- und Vermögenseinkommen verschoben hat. Diese Entwicklung war für das Entstehen der Finanz- und Wirtschaftskrise maßgeblich verantwortlich. Mit steigendem Einkommen sinkt nämlich der Anteil, der reinvestiert wird. Der größerer Teil des Einkommenszuwachses wird dann rund um den Erdball für spekulative Zwecke gejagt. Wir müssen also dafür sorgen, dass ein gesundes Verhältnis zwischen Lohneinkommen und Kapitaleinkommen zustande kommt.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Ottmar Schreiner: Das befürchten die bürgerlichen Parteien, weil dann die allgemeinen Sozialstaatskosten geringer werden und die Unternehmen anständige Löhne zahlen müssen! Der Staat wird also „unsozialer“, aber dafür werden die Unternehmer „sozialer“. Das ist auch gut so!

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Ottmar Schreiner: Es existiert keine Studie, die negative Folgen auf die Beschäftigung nahelegen würde. Im Gegenteil: es werden sogar positive Beschäftigungseffekte konstatiert!

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?

Ottmar Schreiner: Unabhängig davon geht es mir um die Schaffung existenzsichernder Löhne für alle in Deutschland. Wir haben in der Bevölkerung hierfür eine breite Zustimmung. Ich bin mir sicher, dass wir auch eine parlamentarische Mehrheit erreichen werden.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Ottmar Schreiner: Ja, auch für die Zeitarbeit muss mindestens gleicher Lohn für gleiche Arbeit gelten. In anderen Ländern erhalten Zeitarbeiter einen höheren Lohn als Ausgleich für den temporären Charakter dieser Beschäftigung. Eine Art Flexibilitätszuschlag also. Warum nicht in Deutschland?

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, beispielsweise die Niedriglohnbeschäftigten?

Ottmar Schreiner: Die Probleme der Niedriglohnbeschäftigung und der steigenden Armut können meines Erachstens nicht mit einem Konjunkturprogramm gelöst werden. Hier geht es um eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik, zu der auch die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gehört.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Ottmar Schreiner: Lohnuntergenzen und Tariflohnerhöhungen sind zwar keine Rettungsschirme für die Betroffenen, sie können aber aus makroökonomischer Sicht dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum zu stützen und zur Zahlung von menschenwürdigen Löhnen beitragen. Als Schutz für die Betroffenen fordere ich neben der Rettung von Unternehmen – wie im Fall Opel – die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I analog der Kurzarbeiterregelung. Auf diese Weise kann ein abrupter Sturz in die Armut verhindert und Zeit gewonnen werden.

UPDATE April 2013

Ottmar Schreiner (SPD) war Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und Mitglied im SPD-Parteivorstand. Schreiner war über 40 Jahre SPD-Mitglied und scheute sich nicht, auch die Fehler der eigenen Partei zu benennen. In seinem Buch "Die Gerechtigkeitslücke" mahnte er die ungleiche Verteilung des Wohlstands und die daraus resultierende Gefahr für die Demokratie in Deutschland an. Otmar Schreiner ist am 6. April 2013 verstorben.


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