Deutscher Gewerkschaftsbund

06.08.2007
Mindestlohn-Interview

Auf der Suche nach dem Ausgleich

Friedhelm Hengsbach

Friedhelm Hengsbach Privat

Der Jesuit Prof. emer. Friedhelm Hengsbach ist als Priester, Philosoph und Ökonom einer der bedeutendsten Sozialethiker Deutschlands. In seinen Arbeiten setzt er sich insbesondere mit den Themen Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Verbindung von Erwerbssystem und soziale Sicherung, politische Wirtschaftsethik und demokratiefähige Marktwirtschaften auseinander.

Mit Prof. Friedhelm Hengsbach sprach Günter Rohleder

Herr Hengsbach, wie steht es mit der Tarifautonomie?

Friedhelm Hengsbach: Es gelingt den Gewerkschaften nicht mehr, in Tarifverhandlungen auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Das heißt, entsprechend dem Leitbild einer demokratischen Gesellschaft, eine solche Verhandlungsposition aufzubauen, dass derjenige, der vollzeiterwerbstätig ist, von diesem Lohn auch halbwegs menschenwürdig leben kann. Das gelingt nicht mehr und das, denke ich, ist eine Folge der drastischen Machtverschiebung zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften - sicher seit Anfang der 90er Jahre.

Was schlagen Sie vor?

Friedhelm Hengsbach: Die politisch Verantwortlichen müssten sich öffentlich für die Tarifautonomie einsetzen. Sie ist der erste Schritt, um die totale Vermarktung menschlicher Arbeit in Grenzen zu halten. Wir leben in einer kapitalistischen Marktwirtschaft: Die freiheitlichen Grundrechte der Arbeitgeber sind komfortabel gesichert. Aber: Wer kein Sach- oder Geldvermögen hat, wer also über nichts anderes verfügt als über sein Arbeitsvermögen, um durch dessen Verkauf seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, der braucht eine eigene Sicherung. Und das war die Sicherung durch den Sozialstaat und vor allem die Sicherung durch das Arbeitsrecht. Es ist ja ein Recht zugunsten der abhängig Beschäftigten, als individuelles Recht und als kollektives Recht in Form der Tarifautonomie, so dass die Arbeitnehmer auf gleicher Augenhöhe, mit aufrechtem Gang und nicht verbogenem Rücken in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber eintreten können.

Inzwischen werden auch in Niedriglohn-Branchen, in denen noch Tarifparteien miteinander verhandeln, Armutslöhne festgeschrieben. Ist ein gesetzlicher Mindestlohn eine Antwort darauf?

Friedhelm Hengsbach: Die freie Zustimmung zu einem (Tarif-)Vertrag sagt noch nichts aus über die Gerechtigkeit eines Vertrages. Und wenn nicht auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird, also wenn die Verhandlungsposition zwischen Arbeitgeber auf der einen und der abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite ungleich ist, dann kann man darauf schließen, dass die zustande kommenden Verträge ungerecht sind. Das ist die Position eines Sozialethikers.

Ein Mindestlohn muss eine Balance finden zwischen dem, was de facto in einzelnen Branchen an Tariflöhnen ausgehandelt wird, aber Menschen trotz Vollzeitarbeit in Armut hält, und der Idee, dass man von jeder Vollzeittätigkeit ein menschenwürdiges Leben führen können sollte. Eine Balance, die die Unternehmer nicht verscheucht, also keine Arbeitsplätze abbaut, aber die an dem Leitbild festhält, dass Menschen durch Arbeit gesellschaftlich integriert sind und dass derjenige, der arbeiten will und kann, an den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Gütern der Gesellschaft teil hat. Das ist die Spanne. Innerhalb dieser muss ein Weg gefunden werden, der die Zustimmung der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften findet.

Wie stellen Sie sich einen gesetzlichen Mindestlohn vor?

Friedhelm Hengsbach: Wenn der Mindestlohn zu hoch ist, gefährdet er Arbeitsplätze, wenn er zu niedrig ist, ist er überflüssig. Ich könnte mir nach Branchen differenzierte Übergangslösungen vorstellen. Wie bei den Verfahren über das Entsendegesetz oder die Allgemeinverbindlicherklärung könnte der Gesetzgeber mit den Tarifpartnern zusammen einen Weg finden. Oder durch die Bestätigung der Vereinbarungen einer paritätisch von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besetzte Expertenkommission, wie es sie in Großbritannien gibt. Oder durch ein Gesetz.
Eine Lohnuntergrenze ist für alle sinnvoll: Erstens für die Gewerkschaften, weil es ihre Verhandlungsposition tendenziell stärkt. Zweitens für die Unternehmen, denn ihnen bleibt jenes Rattenrennen erspart, durch Lohnunterbietung Wettbewerbsvorteile zu ergattern. Drittens befreit eine Untergrenze auch den Staat von der Bürde, so genannte Marktlöhne, die zum Leben nicht reichen, durch öffentliche Leistungen aufstocken zu müssen.

Wie verknüpfen Sie als Sozialethiker Arbeit und Würde?

Friedhelm Hengsbach: Arbeit ist etwas ganz Persönliches. Ich kann die Ware Arbeitskraft nicht trennen von dem Träger der Arbeitskraft; auch der Unternehmer hat kein Interesse daran, eine einzelne abrufbare Arbeitsleistung zu kaufen, sondern er will ja das Arbeitsvermögen nutzen. Um dieser Nutzung willen muss der Mensch, der das Arbeitsvermögen hat, sich einem fremden Willen unterwerfen. Insofern ist Arbeit immer etwas ganz Persönliches und gleichzeitig etwas Notwendiges. Wegen dieser Ungleichheit der Vertragsbedingungen auf beiden Seiten ist die Arbeitskraft keine Ware wie viele andere.
Dieser subjektive Charakter der Arbeit spielt im unternehmerischen Alltag eine untergeordnete Rolle. Angeblich stellen Unternehmer Arbeitskräfte ein, wenn deren zusätzliche Arbeitsleistung der Grenzproduktivität entspricht – gemäß einer mikroökonomischen Theorie, die sich einer empirischen Überprüfung entzieht. Eine vergleichbare Legende ist der Konkurrenzdruck der Niedriglohnländer, die ebenfalls den personalen Charakter der menschlichen Arbeit, aber auch die Rolle der Löhne bei der Entstehung von nationaler und globaler Kaufkraft ausblendet.
Darüber, was in der Globalisierungsdebatte harte Tatsache, Waffe im Verteilungskampf oder Bühnenspektakel ist, muss präziser gestritten werden. Solange strukturelle und verfestigte Zahlungsbilanzüberschüsse erzeugt werden, kann der Wettbewerbsdruck, der angeblich auf der deutschen Industrie lastet, nicht außerordentlich sein.

Sie haben die Produktivität der Arbeitskraft erwähnt als Maß für die Höhe des Lohns. Aber wie misst man die Produktivität einer Erzieherin oder einer Krankenschwester? Was macht einen gerechten Lohn aus?

Friedhelm Hengsbach: Es gibt keinen objektiven, exakt bestimmbaren Maßstab für die wirtschaftliche Leistung und das angemessene Entgelt. Man könnte bissig sagen: Jeder verdient das, was er verdient - und keiner verdient das, was er verdient. Was der gerechte Lohn ist, kann keiner präzise und unbestritten sagen. Obwohl Politiker und Manager den Leistungslohn und die Leistungsgerechtigkeit anhimmeln, wird diese derzeit eindeutig verletzt. Dass beispielsweise diejenige, die Banknoten sortiert, eine wirtschaftliche Leistung erbringt, was für den, der daheim drei Kinder erzieht, nicht zutrifft. Oder der Bauer in Peru, der Kartoffeln anbaut, um die Nahrungsbedürfnisse seiner Nachbarn zu befriedigen, leistet wirtschaftlich nichts, weil seine Nachbarn nicht zahlen können. Wenn er jedoch Orchideen züchtet, die er nach Europa fliegen lässt und die dort vorhandenen kaufkräftigen Kunden ihm ein Einkommen zahlen, dann ist das eine wirtschaftliche Leistung.
Oder nehmen wir eine Automobilfabrik: Der Bandarbeiter, die Designerin, der Abteilungsleiter, der Vorstandsvorsitzende – wie will man den spezifischen Beitrag messen, den die einzelnen jeweils für das Auto, das dann auf dem Markt verkauft wird, erbringen? Oder wie viele gesellschaftliche Vorleistungen gehen in ein kompetentes Arbeitsvermögen ein, das zur unternehmerischen Wertschöpfung beiträgt? Schließlich hängt die Bewertung des Arbeitsvermögens von der Macht derer ab, die darüber entscheiden, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen entlohnt werden.

Wie kommt man zu einer gerechteren Leistungsbewertung?

Friedhelm Hengsbach: Die traditionellen Wertmuster dessen, was als produktiv angesehen wird, müssen überwunden werden. Sie sind immer noch an der industriellen Männerarbeit orientiert. So wird alles, was nicht für die Industrie und den Export erarbeitet wird, als weniger produktiv erachtet: Die Arbeit der Erzieher, der Pflegekräfte, der Therapeutinnen. Dabei lässt sich die Rechnung umkehren: Die Erzieherin leistet eine Arbeit, die die hohe Produktivität des Industriearbeiters erst ermöglicht. Und der Krankenpfleger trägt dazu bei, die Leistungsfähigkeit der Exportfirmen zu erhöhen. Die postindustrielle Gesellschaft muss sich darüber neu verständigen, welche Arbeiten für sie besonders nützlich sind. Und die Frage nach einer gerechten Leistungsbewertung kann meiner Meinung nach nur dadurch beantwortet werden, dass man eine paritätische Verhandlungsmacht zwischen den Tarifpartnern einfordert.


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