Deutscher Gewerkschaftsbund

16.11.2023

Sensationelle Entdeckung: Stein der Wirtschaftsweisen gefunden

Über Jahrhunderte suchten Alchemisten nach dem Stein der Weisen. Er sollte Edelmetalle in beliebiger Menge erschaffen. Einige Wirtschaftsweise haben ihn nun wohl entdeckt: den Aktienmarkt. Er erschafft so viel Geld wie erwünscht, um ein steigendes Rentenniveau bei sinkendem Beitragssatz zu finanzieren. Langfristig lägen die Renten dann höher als der Lohn. Wunder geschehen halt immer wieder.

Aktienkurse werden angezeigt, dahinter aufgetürmte Münzen

DGB/Pop Nukoonrat/123RF.com

In seinem Jahresgutachten 2023 hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die sogenannten Wirtschaftsweisen) ausführlich zur Ausgestaltung der Alterssicherung in Deutschland geäußert. Das Gutachten legt eine Vielzahl an Möglichkeiten dar, wie die Einnahmen verbessert oder die Leistungen gekürzt werden könnten. Am Ende empfehlen drei der fünf Wirtschaftsweisen einzelne Maßnahmen, um die Ausgaben zu kürzen und den Rentenbeitrag zu senken. Dagegen gibt es zwei verschiedene Minderheitenvoten.

Die Mehrheit der Ratsmitglieder lehnt eine Stabilisierung des Rentenniveaus ab (Rn 461). Stattdessen schlagen sie vor, die Witwenrente zu kürzen (Rn 462), das Rentenalter automatisch zu erhöhen (Rn 463), das Rentenniveau für alle heute Beschäftigten noch stärker abzusenken und die Renten noch langsamer steigen zu lassen (Rn 466) sowie ab dem Durchschnittslohn weniger Rente zu zahlen (Rn 467). Um die so gerissenen Löcher zu schließen, sollen alle Beschäftigten verpflichtet werden vier Prozent des Lohns in einen staatlichen Aktienfonds zu zahlen (Rn 464), den sie abwählen können.

Ausgaben der gesetzlichen Rente würden um 20 Prozent gekürzt

Diese Vorschläge ergeben zusammen eine Ausgabenkürzung in der gesetzlichen Rentenversicherung bis 2080 von rund 20 Prozent gegenüber dem geltenden Recht. Dennoch behaupten die Wirtschaftsweisen, dass das Sicherungsniveau aus der gesetzlichen Rentenversicherung in 2080 höher wäre. Ohne den Stein der Weisen funktioniert das nur, wenn man zwei Dinge versteht:

  • Das Rentenalter läge 2080 bei etwa 69,5 Jahren, dadurch wird die Rente deutlich kürzer als nach geltendem Recht gezahlt. Diese Ersparnis wird zu etwa einem Drittel in höhere Renten umgemünzt. Die restlichen Zweidrittel mindern den Beitragssatz. Das Motto ist also eine längere Zeit einzahlen und dafür kürzer etwas rausbekommen. In der Summe über das ganze Leben bedeutet das weniger Rentenzahlungen pro Beitragseuro, ökonomisch eine geringere interne Rendite – wie eine Studie des DIW von 2021 zeigt.
  • Das ausgewiesene gesetzliche Rentenniveau von rund 49 Prozent gilt nur für Personen, die 45 Jahre stets durchschnittlich verdienten. Betrug das Einkommen 45 Jahre lang stets das Doppelte des Durchschnittlohns, wäre die Rente nicht mehr wie heute auch doppelt so hoch. Sie ist um rund 25 Prozent gekürzt und das Sicherungsniveau bei höheren Einkommen läge noch bei etwa 37 Prozent.

Der Aktienmarkt löst alle Probleme

Diese Leistungskürzungen sind aus Sicht der Mehrheit des Sachverständigenrats aber kein Problem. Denn sie haben den Stein der Weisen gefunden: sie glauben daran, dass der Aktienmarkt alle Probleme löst. Dazu müssen die Beschäftigten nur vier Prozent ihres Lohns in eine Aktienrente zahlen. Denn aufgrund der von ihnen erwarteten Renditen kann daraus eine Rente gezahlt werden, die ein Vielfaches höher ist als die Lücke durch das sinkende Rentenniveau. Die verpflichtende aktienbasierte Vorsorge würde nach den Modellrechnungen des Sachverständigenrats die gekürzte gesetzliche Rente mehr als ausgleichen und ein Gesamtversorgungsniveau bis 2080 von rund 80 Prozent erreichen. Bei einem insgesamt geringeren Beitragssatz. Schreibt man das weiter bis 2100 fort, dann wäre um die Jahrhundertwende ein Versorgungsniveau von 100 Prozent zu erwarten, ab dann hätten die Menschen eine höhere Rente zu erwarten als sie vorher Lohn hatten. Und wenn der Aktienmarkt Geld in der gewünschten Menge ausspuckt: wieso machen es dann nicht alle Länder so? Warum schlägt der Beirat nur 4 Prozent als Sparbeitrag vor? Wieso nicht 20 Prozent des Bruttolohns? Schon in wenigen Jahren könnte man den gesamten Sozialaufwand damit bezahlen, ganze ohne Beiträge zu erheben und ohne, dass jemand arbeiten muss. Endlich wäre das kapitalistische Paradies für alle zum Greifen nahe. Nur Friedrich Merz dürfte wieder dagegen sein: "Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können." (zitiert nach FAZ v. 21.9.2020: "Wir müssen zurück an die Arbeit". abgerufen unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/friedrich-merz-wir-muessen-zurueck-an-die-arbeit-16964044.html).

Ausgewogene Rentenpolitik nötig

Zwar leitet der Sachverständigen Rat das Rentenkapitel damit ein, dass zwischen der finanziellen Nachhaltigkeit und der Angemessenheit der Renten abgewogen werden müsse und die Lasten nicht nur den Alten oder nur den Jungen aufgebürdet werden sollen. Doch dann wird der finanziellen Nachhaltigkeit absoluter Vorrang eingeräumt. Finanzielle Nachhaltigkeit reduziert der Beirat nur noch darauf, den Beitragssatz nicht steigen zu lassen. Diesem Beitragssatzdogma wird die gesamte Rentenpolitik unterworfen. Die Angemessenheit der Renten wird hintenangestellt. Das Problem, dass angemessene Renten im demographischen Wandel einen höheren Beitrag benötigen, löst sich durch eine verstärkte Kapitaldeckung von allein in Luft auf. Denn, so die Wirtschaftsweisen, "dieses Problem resultiert nicht aus der Höhe der in Zukunft anfallenden Rentenausgaben, absolut oder im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es entsteht vielmehr aus der Umlagefinanzierung dieser Ausgaben, mit ständig wachsenden Spannungen zwischen den jeweils erforderlichen Finanzierungsbeiträgen und den jeweils erworbenen Rentenansprüchen." (Gutachten des SVR, Rn. 361). Mit anderen Worten: mit Kapitaldeckung sind auch Rentenniveaus von 100 oder mehr Prozent gar kein Problem.

Gesetzliche Rente stärken: Rentenniveau stabilisieren und anheben

Schon einmal rechneten Ökonomen mit schönen Modellrechnungen vor, dass mehr kapitalgedeckte private Vorsorge alle Probleme lösen und künftig jeder bei niedrigeren Beiträgen mehr Rente bekommen würde. Nach 20 Jahren Riester-Rente sind nur die gekürzten gesetzlichen Renten übrig. Es ist nun Zeit, die gesetzliche Rente weiter zu stärken. Dazu muss das gesetzliche Rentenniveau jetzt endlich dauerhaft bei mindestens 48 Prozent stabilisiert werden. Außerdem brauchen wir weiter gute Beschäftigung und gute Bezahlung. Das sichert die Finanzierung der Rente und sorgt für eine individuelle bessere Absicherung. Die Regierung muss die Stabilisierung des Rentenniveau nun endlich beschließen. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Generationenkapital nach dem Urteil des BVerfG darf nicht weiter als Bremsklotz missbraucht werden.


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