Deutscher Gewerkschaftsbund

07.03.2024
Ungleichheit im Gesundheitswesen

Warum wir einen starken Sozialstaat und geschlechtersensible Medizin brauchen

Ein handlungsfähiger und gerechter Sozialstaat kommt allen zugute. Er stärkt die Demokratie und gleicht strukturelle Ungleichheiten aus. Bestimmte Gruppen sind besonders auf ihn angewiesen, darunter viele Frauen, die mit Blick auf das Thema Frauengesundheit und geschlechtersensible Gesundheitsversorgung weiterhin strukturell benachteiligt sind. Die medizinische Grundlagen- und Anwendungsforschung, die Entwicklung von Arzneimitteln und auch die medizinische Versorgung sind immer noch an den Bedürfnissen von Männern orientiert. Wer den Abbau des Sozialstaats fordert, erweist auch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in gesundheitspolitischen Fragen einen Bärendienst.

Die anhaltende strukturelle Benachteiligung von Frauen in Deutschland ist auch im von der Regierungskoalition ausgerufenen Jahrzehnt der Gleichstellung unübersehbar und durch verschiedene Kennzahlen belegt. Frauen verdienen im Durchschnitt immer noch 18 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen, wie kürzlich am Equal Pay Day erneut verdeutlicht wurde. Um das gleiche Gehalt zu erhalten, das Männer am Ende eines Jahres verdient haben, müssen Frauen über zwei Monate länger arbeiten. Ein wesentlicher Grund für den Gender Pay Gap ist die Tatsache, dass Frauen einen erheblich größeren Anteil an unbezahlter Sorge- und Hausarbeit leisten. Der aktuelle Gender Care Gap beträgt den Ergebnissen der Zeitverwendungserhebung 2022 zufolge 43 Prozent oder 1 Stunde und 17 Minuten pro Tag. Über 1 Woche hinweg summieren sich die Stunden unbezahlter Arbeit, die Frauen leisten, auf mehr als 1 ganzen Arbeitstag. Das ist die Zeit, die Frauen für bezahlte Erwerbsarbeit fehlt. Der Umfang der bezahlten Arbeit hängt stark davon ab, ob Kinder im eigenen Haushalt leben und wie alt das jüngste Kind ist: Während Mütter mit Kindern unter 18 Jahren durchschnittlich gut 17,5 Stunden pro Woche mit bezahlter Arbeit verbringen, liegt bei Männern mit minderjährigen Kindern im eigenen Haushalt der Umfang der Erwerbsarbeitunabhängig vom Alter des jüngsten Kindes – bei durchschnittlich rund 32 Stunden pro Woche. Die finanziellen, sozialen und beruflichen Risiken der überkommenen geschlechterspezifischen Arbeitsteilung tragen die Frauen, die am Ende ihres Erwerbslebens eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben als Männer, von Altersarmut betroffen zu sein. Diese strukturelle Ungleichheit unterstreicht die dringende Notwendigkeit eines starken Sozialstaats, der zumindest teilweise die strukturelle Benachteiligung im Erwerbsverlauf ausgleicht und vor sozialen Härten schützt.

It’s a man’s world – auch in der Medizin

Geschlechterbasierte Ungleichheit hat viele Facetten. Neben den Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich dies besonders in Medizin und Gesundheitsversorgung, die die spezifischen Gesundheitsbedürfnisse von Frauen oft vernachlässigen, z. B. indem Apparatemedizin, invasive Therapien und Medikalisierung Vorrang haben bei der Ressourcenverwendung. Die menschenbezogene Prävention, die sprechende Medizin und die pflegerische Versorgung kommen zu kurz. Männlich-hierarchisch geprägte Strukturen, Normen und Umgangsweisen sowie eine paternalistische Grundhaltung stehen der Beachtung der Frauenbelange und der Patient*innen-Autonomie häufig entgegen. Dies wird u. a. deutlich bei akuten medizinischen Notfällen wie Herzinfarkten. Denn obwohl Frauen wesentlich seltener einen Herzinfarkt erleiden als Männer, enden diese bei Frauen häufiger tödlich. Ein entscheidender Grund für die höhere Sterblichkeit ist, dass sich die Symptome bei Frauen deutlich anders gestalten und unspezifischer wirken. Das hat zur Folge, dass ein schnelles adäquates Eingreifen oft ausbleibt. So wird bei Frauen durchschnittlich fast eine halbe Stunde später der Krankenwagen gerufen als bei Männern. Diese Verzögerung kostet Menschenleben. Im Krankenhaus angekommen werden Frauen öfter Opfer von Fehldiagnosen, weil selbst medizinisches Fachpersonal die unspezifischen Symptome bei Frauen schwer deuten können. Geschlechterspezifische Benachteiligungen zeigen sich bereits bezogen auf das biologische Geschlecht: Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, z. B. bezüglich Stoffwechsel oder Hormonstatus werden in der Regel nicht thematisiert. Das führt zu gesundheitlichen Nachteilen für Frauen bei der Medikation: Über- oder Unterdosierung, Fehleinsatz, mangelnde Wirksamkeit, unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Statistiken belegen, dass Frauen zwar eine höhere Lebenserwartung haben als Männer, jedoch deutlich mehr Lebensjahre in schlechterer Gesundheit verbringen und ihren Gesundheitszustand auch subjektiv schlechter bewerten als Männer.

Geschlechtersensibilität und Chancengleichheit im Bereich Gesundheit

Die geschlechterspezifischen Folgen aufgrund von Doppel- und Dreifachbelastung mit Erwerbs- und Sorgearbeit für Kinder oder/und pflegebedürftige Angehörige offenbaren sich in höheren Fehlzeiten von Frauen; sie sind auch von bestimmten psychosomatischen Krankheitsbildern stärker betroffen. Aus all diesen Gründen muss das Bewusstsein für geschlechts- und geschlechterspezifische Unterschiede in Medizin und Gesundheitswesen gestärkt werden. Mediziner*innen müssen bereits während ihres Studiums und in ihrer Ausbildung für die Unterschiede bei Diagnose und Behandlung sensibilisiert werden. Dass erst seit wenigen Jahren ein zaghaftes Umsteuern bei der Ausbildung des medizinischen Personals und in der Versorgung stattfindet, ist ernüchternd und zeigt die großen Anstrengungen, die notwendig sind, um Geschlechtersensibilität und Chancengleichheit im Gesundheitsbereich zu verbessern. Es ist notwendig, Zugangsbarrieren zu ärztlicher Versorgung abzubauen und die Aus- und Weiterbildung aller im Gesundheitswesen Beschäftigten zu fördern im Hinblick auf Bewusstsein und Wissen gegenüber allen Formen geschlechtsspezifischer Gesundheitsrisiken und geschlechterspezifischer Benachteiligungen sowie im Hinblick auf die geschlechtergerechte Gestaltung der Versorgung. Wir brauchen die Geschlechterperspektive in der Forschung ebenso wie in Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation; sie würde dazu beitragen, Betroffenen gezielt helfen zu können.


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