Deutscher Gewerkschaftsbund

19.12.2011

Michael Sommer: "Niedriglohnsektor durch gesetzlichen Mindestlohn eingrenzen"

Einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro  fordert der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Nach einer Prognos-Studie könne dies die Binnennachfrage ankurbeln, denn die Einkommen würden "um über 14 Milliarden Euro pro Jahr steigen". Interview mit der Bild am Sonntag.

Bild am Sonntag: Herr Sommer, wann kommt die Euro-Krise beim deutschen Arbeitnehmer an?

Michael Sommer: Wir haben leichte Konjunkturdellen, aber bislang keine Rezession. Damit das so bleibt, muss die Regierung vorsorgend tätig werden. In der Bankenkrise 2008 waren die Auftragsbücher der Firmen über Nacht leer. Aus dieser Erfahrung heraus müssen wir in der Lage sein, das Kurzarbeitergeld über Nacht wieder einzuführen. Und die Politik muss bereit sein, ein großes Maßnahmenpaket von einer erneuten Bankenrettung bis zu einem neuen Konjunkturprogramm zu schnüren. Ich habe von der Regierung und Opposition dafür positive Signal

Die deutsche Wirtschaft stagniert im zweiten Halbjahr 2011. Für das nächste Jahr rechnet die Bundesbank noch mit 0,6 Prozent Wachstum. Was erwartet der DGB?

Die Entwicklung hängt nicht unerheblich davon ab, ob wir Konjunktur stabilisierende Maßnahmen beschließen. Wenn wir endlich den Niedriglohnsektor durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro eindämmen, dann könnten wir die Erwerbseinkommen der Arbeitnehmer nach einer Prognos-Studie um über 14 Milliarden Euro pro Jahr steigern und so einen Nachfrageschub auslösen. Wichtig für die Konjunktur sind auch die anstehenden Tarifrunden in der Elektro- und Metallbranche und dem Öffentlichen Dienst im Bund und den Kommunen.

Wenn sich die Konjunktur abkühlt und Arbeitsplätze bedroht sind, ist das der klassische Zeitpunkt für Lohnzurückhaltung. Was werden Sie den Arbeit­gebern darauf in den Tarifrunden des kommenden Jahres erwidern?

Wir werden auch im kommenden Jahr eine realistische und verantwortungsbewusste Tarifpolitik machen. Wir messen unsere Tarifforderungen immer daran, was zu verteilen ist, wie hoch die Produktivität ist, wie die allgemeine wirtschaftliche Situation aussieht. Angesichts der Exportstärke Deutschlands kommt es in einer sich abkühlenden Weltwirtschaft jetzt darauf an, die Binnennachfrage zu stärken. Wir können, wollen und dürfen Deutschland nicht als 'Billigheimer' betrachten.

Der DGB lehnt die Schuldenbremse ab, die gerade für alle Euro-Staaten verbindlich gemacht worden ist. Warum?

Wir haben es in erster Linie nicht mit einer Schuldenkrise, sondern mit einer Staatseinnahmekrise zu tun. Es ist doch kein Wunder, wenn bei uns nach den Steuersenkungen der vergangenen 10 bis 15 Jahre dem Staat das Geld fehlt. Wenn wir heute noch die Steuergesetze des Jahres 2000 hätten, hätte der Staat in diesem Jahr 50 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Das haben wir seriös durchrechnen lassen. Dann kämen wir heute ohne Neuverschuldung aus.

Welche Steuern müssten nach Ihrer Meinung erhöht werden?

Ich denke an die Einführung einer Vermögenssteuer, die Reichensteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer und die Besteuerung von Finanztransaktionen. Ich sehe auch nicht ein, dass ein gut verdienender Arbeiternehmer deutlich mehr Einkommenssteuer bezahlen muss und ein anderer, der nicht arbeiten geht und von seinen Kapitaleinkünften lebt, nur 25 Prozent bezahlt. Ich fordere daher die Abschaffung, mindestens aber die deutliche Anhebung der Abgeltungssteuer. Die von der SPD vorgeschlagenen 32 Prozent sind da ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Schröders Agenda 2010 gilt allgemein als eine der Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg der vergangenen Jahre. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass in einer globalisierten Welt nicht jede Arbeit angemessen bezahlt werden kann und daher der Staat - Stichwort Hartz IV - aufbessern muss. Gilt das nicht mehr?

Diese Darstellung ist einfach nicht richtig. Denn das Schlimmste, was diese Politik gebracht hat, ist die Entwertung von Arbeit. Das sieht übrigens der SPD-Vorsitzende Gabriel heute auch so. In der Folge sind Millionen von Menschen in diesem Land um ihren gerechten Lohn für ihre gute Arbeit betrogen worden. Gleichzeitig wurden Arbeitgeber subventioniert, die Hungerlöhne bezahlen. Das hat dazu geführt, dass Arbeit in Deutschland zum Teil billig geworden ist wie Dreck. Das empfinde ich als zutiefst unwürdig. Es gibt Menschen in diesem Land, die auf keinen Cent verzichten können. Ich will nicht, dass solche Zustände in Deutschland hoffähig bleiben. Deswegen muss es eine Lohnuntergrenze geben, die dafür sorgt, dass jemand, der Vollzeit arbeitet, von seinem Lohn leben kann.

Wie müsste die aussehen?

Wir fordern einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Davon kann man einigermaßen leben und der ist auch bezahlbar. Es heißt dann immer, dass dadurch Dienstleistungen teurer würden. Na und? Dann ist das eben so und in Ordnung. Was spricht dagegen, die Preise für Dienstleistungen moderat zu erhöhen und die Leute anständig zu bezahlen? Hinzu kommt, dass ja gerade die Jobs im Dienstleistungsbereich nicht ins Ausland verlagert werden können.

Mit welcher Partei oder Koalition könnten Sie Ihre Vorstellungen am besten durchsetzen?

Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland noch erleben werde, bevor ich 2014 als DGB-Vorsitzender in den Ruhestand gehe - spätestens kommt er nach der nächsten Bundestagswahl. Denn auch die CDU hat sich mit den Beschlüssen des Leipziger Parteitags in die richtige Richtung bewegt, so unzureichend die Beschlüsse auch sein mögen. Eine Partei, die Volkspartei sein will, tut gut daran, auf die Stimmung im Volk zu hören. 80 bis 90 Prozent der Bundesbürger wollen den Mindestlohn. SPD und Grüne auch - seiner Einführung steht nur noch die FDP im Wege.

Die CDU will, dass nicht der Bundestag, sondern eine Kommission aus ­Arbeitgebern und Gewerkschaften eine ­Lohnuntergrenze festsetzt und ­regelmäßig überprüft . . .

Damit könnte ich auch leben. Für mich ist entscheidend, dass durch die Festsetzung eines Mindestlohns  alle darunter liegenden Löhne kassiert werden.

Bundespräsident Wulff steht heftig in der Kritik wegen eines Privatkredits über 500 000 Euro. Finden Sie, dass er ein würdiger Repräsentant Deutschlands ist?

Ich finde, Christian Wulff ist ein guter Präsident, der das Amt im ersten Jahr gut ausgefüllt hat. Ich sehe nicht, dass es an seiner Amtsführung grundsätzliches auszusetzen gäbe. Ich hoffe, dass die aktuell debattierten Vorgänge aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident bald aufgeklärt werden können.

Das Gespräch führten Michael Backhaus und Angelika Hellemann für die Bild am Sonntag vom 18.12.2011.

 


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