Die Rente muss mit den Löhnen steigen. Alles andere wäre ungerecht. Rentner*innen sollen sich das gewohnte Leben und die aktuelle Wohnung weiter leisten können. Der Nachholfaktor bedeutet Rentenkürzungen und verhindert, dass die Renten den Löhnen folgen. Warum das so ist, erklärt der Deutsche Gewerkschaftsbund.
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Die Renten werden jährlich zum 1. Juli angehoben. Die Regelung hierfür besteht aus mehreren Elementen.
Zunächst berechnet die Rentenanpassungsformel (geregelt in §68 SGB VI) wie stark die Renten angehoben werden könnten. Diese bestimmt aus der Lohnentwicklung und zwei Dämpfungsfaktoren eine rechnerische Rentenanpassung.
Der Beitragssatzfaktor kürzt immer dann die nächste Rentenerhöhung, wenn der Beitragssatz zur Rentenversicherung gestiegen ist – und umgekehrt steigert er die Rentenerhöhung, wenn der Beitragssatz sinkt.
Der Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt das Verhältnis der Äquivalenzrentner zu den Äquivalenzbeitragszahlenden. Im Detail ist die Berechnung komplex. Vereinfacht gesagt geht es darum: wenn die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen, wird die Rentenerhöhung und damit die Ausgaben gekürzt. Beide Dämpfungsfaktoren wurde eingeführt, damit der Beitragssatz niedriger ausfällt bzw. weniger steigt.
Durch die Dämpfungsfaktoren steigen die Renten regelmäßig langsamer als die Löhne – seit 2000 sind die Renten deswegen rund neun Prozent langsamer gestiegen als die Löhne.
Nach der Rentenanpassungsformel greifen dann die Schutzklausel („Rentengarantie“) bzw. der Nachholfaktor („Ausgleichsbedarf“).
Abschließend prüft die Haltelinie beim Rentenniveau (Niveausicherungsklausel), ob mit der vorgesehenen Rentenerhöhung die Standardrente („Eckrente“) nach Sozialbeiträgen noch 48 Prozent des verfügbaren Durchschnittslohns betragen würde (Rentenniveau von 48 Prozent). Läge das Rentenniveau unter 48 Prozent, dann wird die Rente so erhöht, dass das Rentenniveau wenigstens 48 Prozent beträgt. Diese Prüfung gilt aktuell nur bis einschließlich 2025.
Offiziell heißt der „Nachholfaktor“ Ausgleichsbedarf bzw. Ausgleichsfaktor. Die Begriffe werden hier synonym verwendet.
Verhindert die Schutzklausel eine Senkung der Bruttorenten, wird ein sogenannter Ausgleichsbedarf ermittelt. Der Ausgleichsfaktor ist dann niedriger als 1. Beispielsweise entspricht ein Ausgleichsbedarf von 1,5 Prozent einem Ausgleichsfaktor von 0,9850. Künftige Rentenerhöhungen werden dann um diesen Ausgleichsbedarf reduziert, aber maximal halbiert. Kann der Ausgleichsbedarf nicht vollständig abgebaut werden, verbleibt ein Restbedarf, der spätere Rentenanpassungen analog kürzt. Solange der Ausgleichsfaktor kleiner als 1 ist besteht Ausgleichsbedarf, der kommende Rentenerhöhungen kürzt.
Ein Beispiel:
Die Anpassungsformel (§68 SGB VI) ergäbe eine rechnerische Anpassung von minus einem Prozent. Der Rentenwert müsste demnach von 34,19 Euro auf 33,85 Euro sinken. Die Schutzklausel belässt ihn aber bei 34,19 Euro (Nullrunde). Der Ausgleichsbedarf beträgt dann ein Prozent (mathematisch: 0,99). Betrüge die nächste Rentenerhöhung rechnerisch 2,5 Prozent (1,025) würde diese um den Ausgleichsbedarf gekürzt (mit 0,99 multipliziert). Die so gekürzte Rentenanpassung betrüge 1,5 Prozent (1,015). Da 1,5 mehr als die Hälfte der 2,5 Prozent ist, wird der Ausgleichsbedarf voll abgezogen. Der Ausgleichsbedarf wäre dann voll abgebaut (Faktor = 1,0000).
Hätte die rechnerische Rentenanpassung nur 1,1 Prozent betragen, dürfte maximal 0,55 Prozent (die Hälfte der eigentlichen Anpassung) ausgeglichen werden. Es verbliebe dann ein Rest an Ausgleichsbedarf 0,45 Prozentpunkten (0,9955).
Der Nachholfaktor ist in §68a Abs.2 bis 4 SGB VI geregelt.
Der Ausgleichsfaktor wurde im Jahr 2007 unter Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) zusammen mit der Rente mit 67 (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) eingeführt. Ziel des Ausgleichsfaktors ist, dass das Rentenniveau trotz Schutzklausel mittelfristig so gesenkt wird wie ohne Schutzklausel vorgesehen. Die 2005 eingeführte Schutzklausel schützt davor, dass die Dämpfungsfaktoren zu einer negativen Rentenanpassung führen. Die Schutzklausel wirkte aber mehrfach. Die Kürzungen der Rentenausgaben durch ein niedrigeres Rentenniveau wurden nicht wie politisch erwünscht erreicht. Also wurde 2007 der Ausgleichsfaktor eingeführt, um diese Minderungen doch umzusetzen – sie sollten aber erst ab 2011 abgezogen werden. Ziel das Ausgleichsfaktors ist es also, das als vorrangig angesehene Beitragssatz-Ziel mittelfristig trotz Schutzklausel auch durchzusetzen.
Hierzu die Gesetzesbegründung im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz:
„[…] der Gesetzgeber mit dem Nachhaltigkeitsfaktor ein Element in die Rentenanpassungsformel aufgenommen, das den Anstieg der Renten seit dem Jahr 2005 tendenziell dämpft. Gleichzeitig wurde eine Schutzklausel in das Gesetz eingefügt, die sicherstellt, dass es allein wegen der Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors nicht zu einer Minusanpassung kommen kann […] Der Gesetzgeber ist im Jahr 2004 davon ausgegangen, dass die Dämpfungswirkung dieser Faktoren voll zum Tragen kommt und nicht durch die Schutzklausel begrenzt wird. […] Es ist absehbar, dass auf der Grundlage des geltenden Rechts auch in den kommenden Jahren an sich notwendige Anpassungsdämpfungen wegen der Schutzklausel nicht realisiert werden können. […] Der finanzielle Mehrbedarf würde dazu führen, dass die gesetzlichen Beitragssatzziele von höchstens 20 Prozent bis 2020 und 22 Prozent bis 2030 nicht eingehalten werden können.“
Im Jahr 2009 wurde befürchtet, die Kurzarbeit könne statistisch zu einer negativen Lohnentwicklung führen. Eine daraus resultierende negative Rentenanpassung sollte vermieden werden. Dazu wurde mit einem Änderungsantrag zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, die Schutzklausel auch auf negative Lohnentwicklungen ausgeweitet. Der Ausgleichsfaktor galt automatisch auch für die erweiterte Schutzklausel im Falle sinkender Löhne. Der Ausgleichsfaktor wurde also nicht verändert. Dies macht auch die Begründung des Änderungsantrags deutlich:
„Im Unterschied zur geltenden Regelung gilt der Ausschluss der Minderung des aktuellen Rentenwerts nun nicht nur in Bezug auf die Minderungswirkung der anpassungsdämpfenden Faktoren in der Rentenanpassungsformel, sondern auch für den Fall einer negativen anpassungsrelevanten Lohnentwicklung. Nach geltendem Recht sind schutzklauselbedingte Minderungseffekte ab dem Jahr 2011 mit positiven Rentenanpassungen zu verrechnen. Künftig erhöht auch eine unterbliebene Minderungswirkung aufgrund einer negativen anpassungsrelevanten Lohnentwicklung einen ab 2011 zu verrechnenden Ausgleichsbedarf, der nun aus allen Faktoren der Rentenanpassung in ihrem Zusammenwirken nach § 68 entstehen kann.“
Der Ausgleichsfaktor diente dabei zusätzlich als politische Legitimierung der ausgeweiteten Schutzklausel, da die Minderung ja künftig nachgeholt würde.
In der Zeit bis zum Jahr 2025 wird nach aktuellem Recht kein Ausgleichsbedarf ermittelt oder angewendet (§255g SGB VI). Der Ausgleichsfaktor ist auf 1,0 festgelegt. Hintergrund ist die 2018 eingeführte Niveauschutzklausel (§255e SGB VI). Diese soll sicherstellen, dass das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinkt: die verfügbaren Renten sollen also mindestens wie die verfügbaren Löhne steigen. Der Ausgleichsfaktor soll aber insbesondere die Kürzungswirkungen der Dämpfungsfaktoren mittelfristig voll durchsetzen und steht damit dem Prinzip der Haltelinie entgegen. Insofern war das Aussetzen des Ausgleichsbedarfs folgerichtig. Dies wurde im selben Gesetz umgesetzt und in der Gesetzesbegründung erläutert.
Die Koalition hat sich nun darauf verständigt, den Nachholfaktor ab 2022 wieder anzuwenden. Die Rentenerhöhung 2022 soll also um den Ausgleichsbedarf gekürzt werden, da bei der Rentenanpassung im Jahr 2021 die Schutzklausel (§68a Abs. 1) griff. Da der Nachholfaktor aber 2021 ausgesetzt war, wurde kein Ausgleichsbedarf ermittelt. Dieser beträgt weiterhin 1,0000. Da aktuell rechtlich kein Ausgleichsbedarf besteht, muss die Bundesregierung entscheiden, wie hoch dieser sein soll und dies entsprechend begründen. Die unterlassene rechnerische Rentenminderung in 2021 hat fast gar nichts mit der Lohnentwicklung in 2020 zu tun, sondern basiert auf ganz anderen Effekten.
Die Anpassungsformel (§68 SGB VI) ergab für 2021 eine rechnerische Rentenminderung von rund 3,3 Prozent. Diese setze sich wie folgt zusammen:
Rückläufige Lohnentwicklung in 2020: rund 0,3 Prozent
Statistischer Effekt aus 2019 ohne Wirkung auf die Löhne: rund 2,1 Prozent
Zur Rentenanpassung 2021 wurde kein Ausgleichsbedarf ermittelt, da der Ausgleichsfaktor bis 2025 ausgesetzt ist. Im Jahr 2022 wird, auch bei Reaktivierung des Ausgleichsfaktors, die Rentenanpassung nicht gemindert. Soll die Rentenerhöhung 2022 gekürzt werden, ist zunächst der Ausgleichsbedarf gesetzlich/politisch festzulegen. Dafür gibt es mindestens drei verschiedene Möglichkeiten und Begründungen:
Dies ist eine Entscheidung von verteilungspolitischer Bedeutung, mit kurz- und langfristigen Auswirkungen auf das Rentenniveau und die Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau. Der DGB lehnt den Nachholfaktor ab, da er funktional eine Rentenkürzung ist.
Die Reaktivierung des Ausgleichsfaktors findet, so auch der Koalitionsvertrag, innerhalb der geltenden Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau statt. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass das Rentenniveau nach dem Willen der Koalition künftig um den Statistikeffekt (vgl. „Statistik-Effekt bei den Löhnen“) bereinigt werden soll. Sonst würde das Niveau um einen Prozentpunkt zu hoch ausgewiesen und die Haltelinie faktisch auf 47 Prozent abgesenkt.
Nach Aussagen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) wäre bei bereinigtem Rentenniveau im nächsten Jahr eine Minderung der Rentenanpassung um maximal etwa 0,8 Prozentpunkte auf rund 4,4 Prozent möglich, sonst würde die Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau unterschritten. Andere Berechnungen gehen von einer maximal möglichen Minderung um etwa 0,65 Prozentpunkte aus. Politisch umstritten wird sein, was mit dem „übrigen“ Ausgleichsbedarf passieren soll. Die Haltelinie beim Rentenniveau ist ein Versprechen über den „normalen Anpassungsmechanismus“ hinaus und laut Koalition auch dauerhaft. Würde der Ausgleichsbedarf bei Wirkung der Haltelinie aufbewahrt, würde die Haltelinie unterlaufen bzw. als nachrangig eingestuft. Denn das Ziel das Ausgleichsfaktors, das Rentenniveau konsequent zu senken, steht im Widerspruch zur Haltelinie.
Die Schutzklausel in §68a Abs. 1 SGB VI verhindert, dass die Renten brutto gesenkt werden. Es gibt mindestens eine Nullrunde. Das schließt aber nicht aus, dass die Nettoeinkommen der Rentner*innen sinken, weil die Beitragssätze zur Kranken- oder Pflegeversicherung steigen. Dies war 2021 oftmals der Fall, da der Zusatzbeitrag der meisten Krankenkassen leicht gestiegen ist.
In die Rentenerhöhung eines Jahres gehen zwei verschiedenen Lohndefinitionen ein.
Beide Lohndefinitionen gehen in den Lohnfaktor ein. Damit sollen die Renten kurzfristig den früher verfügbaren Daten der Lohnentwicklung gemäß des Statistischen Bundesamtes folgen. Mittelfristig (mit einem Jahr Verzug) sollen sie sich aber an den tatsächlichen Löhnen der Versicherten orientieren. Daher wird der Unterschied zwischen der zunächst verwendeten Lohnentwicklung nach VGR zu den beitragspflichten Einkommen gemäß der Rentenversicherung korrigiert. Stiegen die Löhne nach VGR schneller als die beitragspflichtigen Einkommen, fällt die nächste Rentenanpassung etwas niedriger aus. War sie niedriger, fällt die Rentenerhöhung entsprechend höher aus.
DGB
Für die Rentenanpassung 2021 war dieser Korrekturfaktor besonders groß. Denn laut verwendeter Daten stiegen die Löhne gemäß VGR 2019 um 2,95 Prozent, während die beitragspflichtigen Löhne um 0,81 Prozent stiegen. Die Differenz von 2,08 Prozent mindert dann die Rentenanpassung.
Dabei sind die beitragspflichtigen Löhne im Jahr 2019 in Wahrheit um 2,96 Prozent und damit so schnell wie die Löhne nach VGR gestiegen. Die bei der Rentenanpassung verwendete deutlich geringe Lohnerhöhung ergibt sich, weil die Rentenversicherung die statistische Berechnung verändert hat. Dabei sind rund 900.000 Minijobbende jenseits der Regelaltersgrenze neu in die Statistik eingegangen, was den Durchschnitt senkt. Diese 900.000 Minijobs gab es zwar 2018 auch, damals wurden sie aber nicht in die Statistik aufgenommen. Die niedrige Lohnentwicklung ist also ein rein statistischer Effekt. Die Anpassungsformel weist folglich einen um 2,08 Prozent zu großen Lohnrückgang aus.
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Der Lohnfaktor (vgl. Statistik-Effekt bei den Löhnen) geht auch in die Berechnung des Rentenniveaus (Sicherungsniveau vor Steuern) ein. Das Sicherungsniveau vor Steuern wird wie folgt berechnet:
DGB
Die verfügbare Standardrente ist eine Jahresrente aus 45 Entgeltpunkten mit dem Rentenwert zum 1. Juli des Jahres abzüglich der Sozialbeiträge der Rentner*innen.
Verfügbares Durchschnittsentgelt (DE) ist der Wert des Vorjahres, der mit dem Lohnfaktor aus der Rentenanpassung und der Veränderung der Nettoquote multipliziert wird. Nettoquote ist der Anteil, der nach Abzug von den Sozialbeiträgen übrigbleibt (also 100 – Sozialbeiträge der Arbeitnehmer).
Für 2021 gilt dann folgende Formel: Die genaue Berechnung von verfügbarer Standardrente und Nettoquote ist unerheblich, da sie mit und ohne Revisionseffekt gleich bleibt. Die offizielle Rentenwertbestimmgungsverordnung (RWBestV) errechnet für 2021 folgendes Sicherungsniveau vor Steuern:
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Der verwendete Lohnfaktor von 0,9765 (= minus 2,35 Prozent) ist inklusive des Statistik-Effekts. Ohne den Statistik-Effekt beträgt der Lohnfaktor 0,9974 (= minus 0,26 Prozent). Das Sicherungsniveau vor Steuern berechnet sich ohne den Statistik-Effekt wie folgt:
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Gerundet auf eine Nachkommastelle wird das Rentenniveau mit 49,4 Prozent durch den Revisionseffekt um 1,1 Prozentpunkte höher ausgewiesen als ohne Revisionseffekt mit 48,3 Prozent.