Deutscher Gewerkschaftsbund

04.03.2024

Die Tragfähigkeit des Sozialstaats ist eine politische Entscheidung, kein Naturgesetz!

Eine gute Versorgung kostet Geld. Wer Sozialbeiträge senken will, stellt die Verteilungsfrage. Dies wollen die Familienunternehmer und die Jungen Unternehmer. Sie haben ein Gutachten in Auftrag gegeben, welches mit Formulierungen von Kipppunkten und Analogien zum Klimawandel die Verteilungswünsche der Unternehmen als Naturgesetze verkauft. Kritik adelt Schund, aber sie ist hier dringend nötig.

Neoliberale Ökonom*innen und selbsternannte Expert*innen stützen sich bei ihrer ökonomisch begründeten Kritik am Sozialstaat gerne auf das Konzept der Tragfähigkeit, wie es aus den Diskussionen zu den Staatsfinanzen bekannt ist. Dieses Konzept ist seit jeher in der Wirtschaftswissenschaft umstritten (vgl. zur kritischen Auseinandersetzung: www.imk-boeckler.de/fpdf/HBS-008514/p_imk_study_84_2023.pdf).

Mit der "Tragfähigkeit der Sozialversicherung in Deutschland" haben sich Herr Prof. Dr. Fetzer und Herr Prof. Dr. Hagist im Auftrag von Die Familienunternehmer und Die Jungen Unternehmer befasst. Dabei nutzen sie – wie so viele einschlägige Ökonomen – einen ihre eigene Analyse überhöhenden Vergleich ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise auf die Sozialversicherungen und den Sozialstaat mit einem, physikalischen Gesetzen folgenden Klimawandel. Weitgehend synonym verwendet werden dabei die Theorie von der Tragfähigkeit mit Theorien über intertemporale Budgetrestriktionen bzw. finanzielle Nachhaltigkeit. Allein schon die Entlehnung des Begriffs der „Nachhaltigkeit“ aus naturwissenschaftlichen Zusammenhängen verdeutlicht den Versuch einer sozialwissenschaftlichen Disziplin durch bedingungslose Mathematisierung den Anschein einer objektiven Naturwissenschaft zu geben. Und natürlich bemühen sie sich gleich auch um eine verfassungsrechtliche Deutung ihrer Meinung: "Der Begriff »Fiskalische Nachhaltigkeit« könnte dann auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Gewicht einnehmen, denn auch er ist Ausdruck von Generationengerechtigkeit." Und schlussendlich darf natürlich nicht an Kritik gespart werden, dass "heutige Generationen über ihre Verhältnisse leben und sich insbesondere für ihr Alter zu hohe Rentenansprüche und/oder zu generöse Leistungskataloge bei GKV und SPV generieren […]." Dies schränke "den Spielraum heutiger junger oder zukünftiger Generationen womöglich zu stark ein." Das Auftragsgutachten erklärt seinen Inhalt als naturwissenschaftliche Beschreibung, die verfassungsrechtlich relevante Ergebnisse produziert und mit der sich die Generationengerechtigkeit und Tragfähigkeit messen ließen. Soweit zur Sicht der Autoren.

Ließt man einen solchen Text, stellt sich die Frage: Was tun? Denn die Botschaften sind so eindeutig wie verzerrt. Es fängt schon an, dass die Sozialversicherungen sich in ihrer Funktions- und Wirkungsweise sehr unterscheiden, so werden beispielsweise in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung immer die in einer Periode nötigen Leistungen von den in der gleichen Periode lebenden Menschen finanziert. Es sind also stets intratemporale Verteilungsfragen und diese haben somit grundsätzlich gar nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun. Und auch bei der Rentenversicherung werden grundsätzlich nur Ansprüche auf einen Anteil des künftigen Wohlstands erwirtschaftet, dieser ist aber nicht hart definiert. Die gesamte selbstüberhöhende argumentative Kette der Autoren des Gutachtens entlarvt sich selbst und zerfällt in nichts als pure Show.

Um es mit den Argumenten des Bundesverfassungsgereichts zur Generationengerechtigkeit in Sachen Klimaschutz zu sagen: In den Sozialversicherungen können und werden niemals irreversible Entscheidungen getroffen oder Fakten geschaffen. Anders als bei nicht mehr ohne enormen Aufwand zur kompensierenden Abscheidung von bereits ausgestoßenem Treibhausgas, können Leistungen der Sozialversicherungen jeden Tag durch einfache Gesetzgebung nach Belieben abgeändert werden. Daher bestehen keine tatsächlichen Verpflichtungen für künftige Generationen. Es gibt damit auch keinen Kipppunkt im klimatologischen Sinne, ab dem ein naturwissenschaftlich zwingender sich selbst verstärkender Effekt eintritt. Wirtschaftswissenschaft ist keine Naturwissenschaft und ihre Theorien sind theoretische Konstruktionen von sozialer Realität, die selbst Teil dieser Realität sind, diese nicht objektiv beschreiben können und gleichzeitig eben diese Realität durch ihre Sichtweise beeinflussen.

Auch Vergleiche zur Schuldenbremse gehen fehl, da Sozialversicherungen sich aus den laufenden Einnahmen finanzieren und eben gerade keine Schulden aufnehmen. Auch ist ein Abbau von Rücklagen in einzelnen Perioden kein Defizit oder eine Verschuldung, sondern dient dem Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben in mittlerer Frist. Dass die Einnahmen vorrübergehend unter den Ausgaben liegen, ist dem Umlageverfahren immanent, da gerade kein Vermögen aufgebaut werden soll, sondern immer nur die laufenden Ausgaben gedeckt sein sollen. Und umgekehrt: Reichen die Einnahmen nicht, um die Ausgaben zu decken, dann wird der Beitragssatz so weit angehoben, dass die laufenden Ausgaben aus den laufenden Einnahmen wieder gedeckt werden können. So simpel, so klar.

Damit kommen wir zum eigentlichen Anlass des Auftragsgutachtens: Die beauftragenden Unternehmer würden gerne den Beitragssatz zur Sozialversicherung mindern bzw. nicht weiter ansteigen lassen. Denn sie wollen ihre Lohnkosten senken, um höhere Gewinne zu erwirtschaften – verbrämt wird dies zumeist mit der Begründung, man wolle die eigene Wettbewerbsfähigkeit steigern. Die Begrenzung oder gar Senkung des Beitragssatzes ist aber ein verteilungspolitischer Vorschlag. Natürlich muss man den gesellschaftlich diskutieren, denn Beiträge und Leistungen müssen in einer Gesellschaft immer wieder ausgehandelt werden. Nur eines ist hier auch klar: Die Leistungen, welche die Sozialversicherungen erbringen, können nicht einfach gestrichen werden, wie ein drittes Stück Kuchen. Wenn eine Leistung aus Kostengründen aus den Sozialversicherungen gekürzt oder ganz gestrichen wird, dann hat das nicht nur dämpfende Folgen für den Beitragssatz, sondern ganz konkret für die davon betroffenen Menschen. Entweder haben diese dann als einfaches Beispiel eine Zahnlücke, die nicht mehr gefüllt wird, oder sie müssen den Zahnarzt selbst bezahlen oder vorher eine Zusatzversicherung abschließen, also aus eigener Tasche privat vorsorgen.

Wie immer bei Verteilungsfragen gilt, die Kosten sind nicht weg, sondern sie werden nur anders getragen: Durch schlechtere Gesundheit, durch niedrigere Renten, geringere Pflegesätze oder eben durch private Zusatzbeiträge, an denen sich der Arbeitgeber nicht beteiligt. Dies lässt sich sehr schön bei der Alterssicherung zeigen. Anfang der 2000er Jahre wurde, mit dem Argument, die Rentenbeiträge würden auf 25 bis 30 Prozent bis 2030 ansteigen, das Rentenniveau gesenkt und viele Leistungen gestrichen oder gekürzt. Die Menschen sollten diese Kürzungen durch zusätzliche Vorsorge selbst ausgleichen. Heute liegt der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung bei 18,6% (so niedrig wie seit 30 Jahren nicht mehr). Die Beschäftigen hätten aber, um heute und in Zukunft im Alter ungefähr das gleiche Sicherungsniveau wie im Jahr 2000 zu haben, rund sieben Prozent ihres Bruttolohns zusätzlich sparen müssen. Der notwendige Beitragssatz liegt also faktisch bei 25 Prozent und steigt in den kommenden Jahren weiter an. Der Unterschied auch hier: An den zusätzlichen sieben Prozent beteiligen sich die Unternehmen gar nicht und der Staat nur mit ungefähr einem Prozentpunkt. Der Beitrag für die gleiche Leistung wie im Jahr 2000 wird nun also überwiegend von den Beschäftigten selbst bezahlt. Wie konsequent diese Methode in den letzten 30 Jahren umgesetzt wurde, zeigt der Sozialbericht 2021 der Bundesregierung (Abbildung 1). Der Staat und die privaten Haushalte tragen einen massiv gewachsen Anteil der Kosten des Sozialstaats insgesamt, über die Sozialversicherungen hinaus.

Rechnung zur Rente

DGB/Quelle: Sozialbericht 2021 der Bundesregierung

Von einer wachsenden Belastung der Unternehmen durch Sozialbeiträge kann also definitiv keine Rede sein. Auch und gerade nicht im internationalen Wettbewerb. Im Europäischen Vergleich (Abbildung 2) tragen die Unternehmen in Deutschland einen geringeren Anteil an den Einnahmen des Sozialstaates als im Schnitt der EU-28, die Versicherten jedoch deutlich über dem Durchschnitt. Hierbei

Rentenrechnung

DGB/Quelle: Sozialbericht 2021 der Bundesregierung.

sind unterstellte Unternehmensbeiträge für betriebliche Sozialleistungen und Eigenbeiträge der Versicherten berücksichtigt.

Aber das Gutachten weist auch rechnerisch und argumentativ große Schwächen auf. So zahlen die Beschäftigten nicht 40 Prozent Beitrag zu den Sozialversicherungen, sondern nur die Hälfte oder ohne Kinder sogar etwas mehr. Und auch dies nur im Korridor von 2.000 bis etwa 5.100 Euro Brutto im Monat. Darunter gilt der sogenannte Übergangsbereich, darüber sinkt der Anteil der Beiträge am Bruttolohn aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen wieder ab. Soweit die Argumentation auf international mobile Fachkräfte gerichtet ist, dürften diese wohl eh nicht bei einem Unternehmen anheuern wollen, das nicht mal 5.000 Euro im Monat zahlt. Geht es jedoch um inländische Arbeitskräfte, so ist festzustellen: Trotz hoher Sozialbeiträge ist für die Menschen entscheidend, was sie insgesamt bekommen. Da ist neben dem Nettolohn auch die soziale Absicherung entscheidend. So werben amerikanische Unternehmen gerne mit einer großzügigen Krankenversicherung um neue Mitarbeitende. Gute Sozialleistungen mindern ganz massiv den privaten Finanzierungsbedarf, so dass einem evtl. niedrigeren Netto aus Beschäftigung dennoch ein größeres verfügbares Einkommen gegenüber steht. Zum Glück verstehen die meisten Menschen diese Zusammenhänge und folgen nicht den kruden Vorstellungen mancher Ökonomen.

Aber auch rechnerisch stellt das Gutachten neue Maßstäbe auf: "Ökonomisch gesprochen bedeutet dies, dass 40 Prozent der bewerteten Produktivität eines jeden Arbeitnehmers an die Sozialversicherung abgeführt wird." Dies ist mathematischer Unsinn. Einfaches Beispiel mit exakt 40 Prozent paritätischem Beitragssatz: Bei 1.000 Euro Bruttolohn betragen die Sozialbeiträge 400 Euro. Die ökonomisch bewertete Produktivität kostet den Unternehmer also 1.200 Euro (inkl. den 20% Arbeitgeberbeitrag). Die 400 Euro bezogen auf die 1.200 Euro sind jedoch nur 30%. Kleiner aber wohl nicht unbedeutender Fehler für Ökonomen, die ihre Forschung durch mathematische Modelle zur Naturwissenschaft überhöhen wollen. Aber die Botschaft wäre ja sonst auch nicht mehr so schön dramatisch. Stiege der Sozialbeitrag tatsächlich auf 50 Prozent, dann wären das ökonomisch gesprochen nur 40 Prozent der bewerteten Produktivität und damit völlig im von den Unternehmern akzeptierten Rahmen von 40 Prozent Sozialbeitragsbelastung.

Rentenrechnung

DGB/ Quelle: Eigene Berechnung; Person über 23 Jahre, ohne Kinder. Voll Sozialversichert. Durch-schnittlicher Zusatzbeitrag

Dabei ignoriert diese Sichtweise allerdings, dass die Sozialbeiträge fast vollständig von der Steuer absetzbar sind. Die effektive Belastung ist also deutlich geringer. Bei durchschnittlichem Lohn wird gut 20 Prozent der Arbeitnehmer-Sozialbeiträge als Steuerentlastung gewährt, also rund 4 Prozentpunkte von den 20 Prozent Beitragssatz. Dies gilt auch für die Unternehmen, die die Sozialbeiträge von ihrer Steuer absetzen können und somit entsprechend geringere Steuern zahlen.

Am Ende des Auftragsgutachtens kommt, was am Anfang zu erwarten war. Es sind die immer gleichen untauglichen Vorschläge, die von einer Handvoll Ökonomen und den Unternehmen(sverbänden) immer wieder vorgetragen werden: Geringeres Rentenniveau, was mehr private Vorsorge bedeutet. Höhere Altersgrenzen, was länger und damit mehr Einzahlen bedeutet. Mehr Selbstbeteiligung im Gesundheitssektor, heißt nur höhere Ausgaben aus dem gleichen Netto oder eine schlechtere Gesundheit für alle die es sich nicht leisten können. Und beim Arzt soll ein Eintrittsgeld fällig werden, damit sich die Armen das zweimal überlegen, so dass dann auch Friedrich Merz nicht mehr so lange im Wartezimmer sitzen muss. Unbestimmt bleiben die Effizienzgewinne durch die Digitalisierung - ein inhaltsleerer Allgemeinplatz. Nicht fehlen darf in einer solche Aufzählung, mehr Wettbewerb im System zu fordern, damit die Gesundheit der Beschäftigten noch mehr zu einem Geschäftsmodell wird, an dem Unternehmen verdienen.

Alles in allem ist es ein Auftragsgutachten, das kaschieren soll, dass es im Kern um den immergleichen Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit geht.


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