Deutscher Gewerkschaftsbund

01.12.2011
Standpunkte zur Hochschule der Zukunft

Dieter Lenzen: "Partizipationsfrage in neuer Weise stellen"

In seinem Beitrag zur Debatte um ein "Demokratisches und Soziales Leitbild Hochschule" schreibt Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, über die "nachhaltige Universität".

Hauptgebäude der Universität Hamburg, Edmund-Siemers-Allee

Hauptgebäude der Universität Hamburg, Edmund-Siemers-Allee UHH/Dichant

Von Prof. Dr. Dieter Lenzen, Präsident der Universität in Hamburg          

Für eine nachhaltige Universität einzutreten bedeutet mehr als die Befassung mit Fragen des Umweltschutzes, auch wenn dieses vor 40 Jahren der Ausgangspunkt vieler Nachhaltigkeitsbemühungen gewesen ist. Nachhaltigkeit bedeutet vielmehr: Die Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen einer Organisation oder Institution müssen grundsätzlich daraufhin überprüft werden, ob durch sie Entwicklungen so determiniert werden, dass die Qualität der Zukunft und damit des Lebens der Menschen wie auch der Organisation nicht mehr offen ist. Positiv formuliert: Entscheidungen sind nur legitim, wenn sie die Zukunft nicht irreversibel determinieren.

Für eine Universität repräsentiert sich dieses Verständnis von Nachhaltigkeit in vier Dimensionen:

Erste Dimension: Die Forschungsgegenstände

Im Rahmen der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen haben Universitäten auch die Aufgabe, sich in der Forschung solchen Fragestellungen zuzuwenden, die sich mit der Absicherung einer für die Menschen lebenswerten Zukunft beschäftigen. Das bedeutet, dass Zustände und Entwicklungen zum Gegenstand der Forschung gemacht werden müssen, die befürchten lassen, das Leben der Menschen irreversibel zu determinieren. Dieses gilt für unmittelbar einleuchtende Forschungsgegenstände im Bereich der Klimaentwicklung, der Welternährung oder des Ressourcenverbrauchs ebenso wie für Fragestellungen, die nur vermittelt Nachhaltigkeitsrelevanz zu haben scheinen: Z. B. der Erhalt von Regionalspra­chen, die Absicherung des Friedens, die Bewahrung des kulturellen Erbes in Kunst und Mu­sik oder auch die Gesundheitspflege für ein lebenswertes Leben und vieles andere. Wenn man die Forschungsgegenstände einer Universität unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und schwerpunktmäßig organisiert, dann ergeben sich sehr schnell neue Verbindungen zwi­schen bislang wenig miteinander korrespondierenden Fächern, Menschen und Institutionen. Forschung hat also in der Auswahl ihrer Gegenstände immer auch den Auftrag, einen Bei­trag zur Aufklärung über die Erhaltung der Lebensbedingungen zu leisten.

Zweite Dimension: Forschungsmethoden

Diese Dimension erschließt sich nicht unmittelbar. Gleichwohl ist sie in mindestens zwei Richtungen relevant: Forschung ist erstens selbst auch ein Vorgang des Ressourcenverbrauchs und kann auf unterschiedliche Weise vollzogen werden, so dass mit Ressourcen schonend umgegangen wird. Die Vermeidung von Tierversuchen ist ein sofort einleuchten­des Beispiel ebenso wie die Durchführung von Experimenten, die Risiken für Menschen und Natur implizieren. Es genügt also heute nicht mehr, beabsichtigte Forschungsvorhaben in einer kleinen Auswahl von Fächern wie der Medizin, nur unter bestimmten Bedingungen ei­ner Ethikkommission zur Genehmigung vorzulegen, sondern Forscher und Forscherinnen müssen sich selbst fragen, ob die von ihnen gewählten Methoden und Verfahren im Einzel­fall dem Nachhaltigkeitsgebot entsprechen. Der sparsame Umgang mit Ressourcen darf al­lerdings nicht nur auf die materielle Dimension beschränkt sein. Auch Lebenszeit von For­schern und Forscherinnen wie von Versuchspersonen ist zweitens eine Ressource. Es gilt auch für deren Befindlichkeit, für das Hinterlassen von Versuchsspuren, auch im individuel­len Gedächtnis der Beteiligten. Das Bild des kühnen Forschers, der ohne Rücksichten Ge­wissheiten über Natur und Kultur erringen will, muss zumindest ergänzt werden durch das Bild der Forscherin und des Forschers, die achtsam den Dingen auf den Grund gehen.

Dritte Dimension: Akademische Bildung

Die Rede von akademischer Bildung im Gegensatz zu universitärer Berufsausbildung ist mit Bedacht gewählt. Der Bologna-Prozess hat durch seine erklärtermaßen stattfindenden Berufsorientierung Nebenfolgen gezeitigt, die Gefahr laufen, das einzigartige Erfolgsmodell der „Bildung durch Wissenschaft“ zu zerstören und akademische Bildung durch eine bloße Be­rufsausbildung zu ersetzen. Mit universitärer Bildung war aber mehr gemeint: Studierende sollten durch forschendes Lernen, d. h. zum Beispiel durch die Strenge der Methode, durch die Orientierung an der Wahrheit und viele andere Elemente des Forschungsprozesses Persönlichkeitsmerkmale erwerben, als solche, die eine bloße Vermittlung reproduzierbaren Wissens nicht mit sich bringt. Die extreme Verjüngung des durchschnittlichen Studierenden- und Absolventenalters, die starke Verschulung der Studiengänge und der Verzicht auf die Unterscheidung von „wissenschaftlicher“ und bloß „wissenschaftsorientierter“ (Aus-)bildung gefährdet die Kreativität, die intellektuelle Zufriedenheit und damit die Zukunft einer ganzen Gesellschaft. Nachhaltige Bildung in der Universität heißt also mehreres: Eine Beendigung der bloßen Kanalisierung von reproduzierbarem Wissen in eine Vielzahl von Prüfungen („Bulimie-Lernen“). Die Wiedereinführung des Verstehens als Schlüsselbegriff für akademische Bildung und das Ernstnehmen einer über bloße Wissensvermittlung hinausgehenden Per­sönlichkeitsentwicklung, für die die Universität auch angesichts des jungen Lebensalters der Studierenden zunehmend eine Verantwortung hat. Nachhaltigkeit des Lernens heißt also zunächst einmal, das Gelernte durch Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig zu stellen.

Darüber hinaus heißt nachhaltiges Lernen aber auch, im akademischen Lernprozess, wie dieses im Dezenniumsziel „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen niedergelegt ist, Nachhaltigkeit zum Gegenstand des akademischen Unterrichts zu machen. Dieses gilt in Analogie zu den Forschungsthemen (Dimension 1). Junge Menschen müssen in der Universität auch erfahren können, wo in ihrem künftigen Beruf und wo in ihrem Fach die Dimension der Nachhaltigkeit eine besondere Rolle spielt und wo sie einen Beitrag dazu leisten können.

Vierte Dimension: Die „Governance“ der Universität

Das Menetekel von Stuttgart 21, aber auch weniger spektakuläre Ereignisse haben deutlich gemacht, dass die Legitimationskraft der repräsentativen Demokratie nicht mehr ausreicht. Die mündiger gewordenen Menschen wollen an den Details mitwirken und über die Folgen staatlichen Handelns für ihr Leben mitbestimmen. Dieses gilt nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch für Unternehmen, Organisationen, Institutionen. Deshalb muss die Partizipationsfrage für Universitäten in neuer Weise gestellt werden. So wird heute weder die Legiti­mationskraft einer, wenn auch legal gewählten, Hochschulleitung ausreichen, um die Mitglie­der der Universität hinter dem Ziel der Einrichtung zu verbinden, noch können dieses Gre­mien ohne weiteres tun. Beide unterliegen dem Generalverdacht, sich von den Bedürfnissen der Betroffenen zu entfernen, sie nicht ernst zu nehmen, sie nicht mehr zu verstehen oder gar wahrzunehmen, partikulare oder sogar eigene Interessen zu verfolgen usw. Die Ge­schichte der Hochschulentwicklung in Deutschland zeigt diese wachsende Tendenz seit mehreren Jahrzehnten. Es wird deshalb darauf ankommen, neue Formen der Partizipation von Betroffenen zu ersinnen, zu implementieren und zu evaluieren, um die Universitäten wieder zu Einrichtungen zu machen, die von dem kollegialen Willen des Personals und der Kommilitonen, und nicht von den Interessen von Funktionären gesteuert werden, die im Wandel der Motivationslagen in einer Großorganisation bestenfalls hinterherlaufen können. Zu einer nachhaltigen Hochschulsteuerung gehört es deshalb, in Großbeteiligungsverfahren wie „open space“, „real time change management“, Mediation und vielem anderen Wege zu finden, den Willen der Betroffenen zu identifizieren und dann allerdings auch im Entschei­dungsprozess zur Geltung zu bringen. Dieses kann die Zielfindungsprozesse verlängern, muss es aber nicht, vor allem dann nicht, wenn die tatsächlichen Entscheidenden sich an den Willen der Betroffenen gebunden fühlen.

Insofern ist das Ziel des DGB, durch den begonnenen Dialog über die „Standpunkte zur Hochschule der Zukunft“ den Willen der Betroffenen kennen zu lernen, nur zu begrüßen und mit der Hoffnung zu verbinden, dass die so identifizierten Orientierungen auch tatsächlich zur Geltung gebracht werden.


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Dieser Artikel gehört zum Dossier:

Das Leitbild "Demokratische und Soziale Hochschule“ in der Diskussion

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